Das letzte Gefecht?

Von der Abstammungsgesellschaft zur Abstimmungsdemokratie

Manche Befürworter einer Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechtes haben in den letzten Wochen Anflüge von Frustration und Verzweiflung verspürt: Ist das nicht alles schon tausendmal gesagt und durchargumentiert worden, und war nicht längst ein fragiler, aber tragfähiger Konsens über ihre Notwendigkeit in Politik und Gesellschaft erreicht? Es fehlte nur noch der letzte Schritt zur Vollendung einer "Jahrhundertreform" – die kollektiv verbindliche Entscheidung des Gesetzgebers. Auch diese hätte längst erfolgen können: Eine virtuelle Mehrheit im Bundestag war seit Beginn der 90er Jahre gegeben, und sie wuchs erfreulich, bis in Teile der CDU-Fraktion hinein. Zwei Hindernisse standen – außer der Koalitionsbalance zwischen Union und FDP sowie Helmut Kohls Rücksichtnahme auf die CSU-Landesgruppe – im Wege, so daß sie nicht real wurde: Die xenophoben Angstkampagnen aus Bayern und die politische Romantik xenophiler Kreise, die sich den Doppel-Paß geradezu zum Eckpfeiler der Reform stilisierten. Edmund Stoibers Neujahrsattacke und Wolfgang Schäubles Unterschriftenaktion scheinen das Rad wieder auf Null zurückzudrehen. Alle Argumente, auch längst widerlegte und ad absurdum geführte, tauchten in Pressekonferenzen, Talkshows und Kurzinterviews wieder auf.
 

Die Frustration ist verständlich, aber es wäre fatal, wenn sie jetzt zu Resignation führen würde. Die erneute, für weniger Engagierte auch erstmalige Debatte um Pro und Kontra der in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung vereinbarten Reform ist notwendig und unumgänglich, und die Befürworter dürfen sich jetzt nicht zu schade sein, den Meinungsstreit erneut auszufechten. Gegen die von der Union in Hessen gestartete und bundesweit angekündigte Unterschriftenaktion ist ebensowenig einzuwenden wie gegen den von der CSU und Rupert Scholz (CDU) angekündigten "Gang nach Karlsruhe"; beides sind übliche Oppositionsmanöver, um die Regierungskoalition einzuschüchtern, wenn eine parlamentarische Niederlage droht.
 

Zwar ist es merkwürdig und auch beschämend, daß sich die "große Volkspartei der Mitte", die Schäubles CDU bleiben (oder wieder werden) möchte, nun schon aufs Unterschriftensammeln verlegen muß, aber solche Aktionen sind legitime vor- und außerparlamentarische Mittel im Kampf um die Meinungsführerschaft und die Mobilisierung der eigenen Basis wie der potentiellen Wählerschaft.
 

Rot-grüne Kritiker mögen sich an ihre APO- und Oppositionszeit erinnern und daran, daß Befürworter der doppelten Staatsangehörigkeit 1993 ein ähnlich informelles Referendum veranstalteten und dabei über eine Million Unterschriften sammelten, um den Asylkompromiß und den negativen Bescheid über das kommunale Wahlrecht und andere politische Schritte politischer Integration zu kontern. Damals schrieben auch 60 Professoren ein "Manifest" für eine neue Einwanderungspolitik – von ihnen würde man jetzt gerne eine ähnlich engagierte Meldung vernehmen.
 

Unterschriftensammeln und der angekündigte Gang zum Bundesverfassungsgericht sind also legitim – auch wenn sie in diesem Fall töricht sein mögen. Denn beides verheißt wenig Aussicht auf Erfolg. Im ersten Fall verwechseln Berufspolitiker in der üblichen déformation professionelle Demoskopie und Demokratie, im zweiten Fall werden sie mit einiger Sicherheit auf die Nase fallen, gleichgültig, ob sie nach Karlsruhe oder nach Straßburg ziehen. Der Europäische Gerichtshof wird sich für unzuständig erklären oder an der deutschen Gewährung von Mehrstaatigkeit als europaüblicher Praxis nichts auszusetzen haben und auch nichts entdecken können, was der Europäischen Union zuwiderlaufen könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung von 1990 zum kommunalen Wahlrecht dem Gesetzgeber eben den Weg gewiesen, den er jetzt zu beschreiten gedenkt: nicht halbe Integration über ein Wahlrecht für Nicht-Deutsche, sondern volle politische Integration durch Einbürgerung. Von Karlsruhe führt kein Weg mehr zurück zum überholten Staatsangehörigkeitsrecht von 1913.
 

Beide Aktionen werden wohl demonstrieren, daß die jahrelange Kombination von Angstpopulismus und Hysterie bei der inneren Sicherheit, institutionalisiert in der Koalition zwischen konservativen Juristen der Innenministerien und Bierzeltpolitikern, an Kraft verloren hat. Auch in Frankreich und Österreich sind Politiker, die ihre restriktiven und völkischen Überzeugungen dem harten Test von Volksbefragungen ausgesetzt haben, auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden: Sie repräsentieren nicht, wie die CSU vollmundig proklamiert, drei Viertel der Wählerschaft, sondern höchstens ein Fünftel. Nach jüngsten Meinungsumfragen ist nur eine knappe Mehrheit gegen die Gewährung der doppelten Staatsangehörigkeit, wobei insbesondere die Wählergruppen, bei denen die Union das stärkste Defizit aufweist – junge, höher gebildete Frauen in Dienstleistungsberufen – ihr am aufgeschlossensten gegenüberstehen. Mit einer Unterschriftenaktion kann die Union höchstens verunsicherte Stammanhänger an sich binden, aber nicht die "neue Mitte" wiedergewinnen. Die andere Lehre für die moderate Rechte lautet, daß die Nutznießer plebiszitärer Kampagnen bisher eher die radikalen Rivalen waren. Dieses Exempel wird jetzt wohl an Roland Koch, dem Spitzenkandidaten der CDU in Hessen, statuiert werden. Er hat die Aktion zum zentralen Mobilisierungselement seiner ansonsten kaum auf Touren kommenden Kampagne gemacht und die Meßlatte sehr hoch gelegt: Die Regierung werde sich kaum noch trauen, das Staatsangehörigkeitsrecht zu reformieren, wenn sie in Wiesbaden aus der Macht entfernt werde. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Union wird sich derartige Aktionen künftig dreimal überlegen, wenn das Wahlvolk dieses Kalkül nicht mitmacht, die eigene Funktionärsbasis irritiert ist – und die halbtoten hessischen REPs Punkte gemacht haben.
 

Schäubles Risiko
 

Die innerparteilichen Kritiker sind noch stark genug und haben der Aktion nur zugestimmt, um den Partei- und Fraktionschef Schäuble nicht schon nach drei Monaten zu desavouieren. Prominente und sachverständige Unionspolitiker werden aber nicht mitmachen, ganze Orts- und Landesverbände haben ziemlich unverhohlen ihren passiven Widerstand gegen diese danebengeratene Aktion zivilen Widerstands angekündigt. Sie haben aus dem Debakel der Union nach 1969 gelernt, als sie auch schon einmal daran scheiterte, den Verlust der Macht durch außerparlamentarische Mobilisierung (gegen die Ostverträge) zu kompensieren. Natürlich kann ein halbwegs respektables Ergebnis der Unterschriftenaktion das Abstimmungsverhalten von Unionsabgeordneten beeinflussen; aber ihre Loyalität ist in der Opposition nicht mehr so unabdingbar, zumal die FDP sich mit einem Kompromißvorschlag als wiedererweckte Bürgerrechtspartei profiliert und es damit keine Gemeinsamkeit in der Opposition mehr gibt.
 

So kann die ganze Aktion eher auf eine Niederlage für Stoiber und die CSU-Landesgruppe hinauslaufen. Vielleicht ist dies sogar das Ziel des Taktikers Schäuble, der selbst freilich ein hohes Risiko eingeht. Er fällt deutlich erkennbar hinter seine eigene Position als Innenminister zurück, die eine erfreuliche Abkehr von der Zimmermann-Linie der Union darstellte, und er läuft Gefahr, sich mit einem Gesichts- und Machtverlust gegenüber Volker Rühe und seinen jüngeren Vizevorsitzenden bloß als Übergangschef der Union zu entpuppen. Bereits jetzt stellt die CDU unter Beweis, daß sie den Gleichschritt mit den christlichen Kirchen und der Gesellschaft, die ihre Verbände repräsentieren, verloren hat. Ein unwahrscheinlicher Erfolg der Unterschriftenaktion wäre nur ein Danaergeschenk für Schäuble: Er hätte Erwartungen in der Ausländer- und Einwanderungspolitik geweckt, die er nicht einlösen könnte – und mit seinem Rückpaß der im September 1998 geschlagenen radikalen Rechten eine Steilvorlage geliefert.
 

Das andere, so deklarierte taktische Ziel Schäubles ist eine "Politik der Abschreckung", um die Sozialdemokraten zum Einlenken und substantiellen Kompromissen zu bewegen, die als Unions-Erfolg zu verkaufen wären. Führende Sozialdemokraten wie der Parteivorsitzende Lafontaine, Innenminister Schily und Schröders Nachfolger in Hannover, Ministerpräsident Glogowski, haben signalisiert, daß sie diesen Ball aufnehmen wollen. Der Grund dafür scheint klar: Ein Einlenken stellt eine erneute Chance dar, sich von den "radikalen" Grünen zu distanzieren, und die an der eigenen Basis feststellbare Unsicherheit zu beheben. Man braucht sich nur bei SPD-Mitgliedern "draußen im Lande" umzuhören, um Positionen wahrzunehmen, die von der der CSU nicht so weit entfernt sind. Auch die Mehrheit der traditionellen SPD-Anhänger hält nicht viel vom "Doppel-Paß".
 

Wenn ein Kompromiß nicht an die Substanz der Reform geht, ist er in jeder Hinsicht zu befürworten. An die Substanz jedoch geht Otto Schilys Vorschlag, die potentiellen Neubürger wie Beamte dem Lackmustest der Verfassungstreue zu unterziehen; an eine solche Voraussetzung, die im übrigen praktisch nicht nachprüfbar ist, können Bürgerrechte nicht gebunden werden. Die Neugestaltung des Staatsangehörigkeitsrechtes (die noch wesentliche andere Kapitel der Ausländer- und Einwanderungspolitik tangiert) muß also auf ihren konsensfähigen Kern konzentriert werden. Im Fußball ist der Doppel-Paß ein hübsch anzusehender Spielzug, aber der direkte Schuß aufs Tor kann auch zum Erfolg führen. Und der Kern der Reform ist die Ergänzung des Abstammungsprinzips (ius sanguinis) durch eine gute Dosis Territorialprinzip (ius soli). Dieser Schritt würde die politisch-kulturelle Verwestlichung der Bundesrepublik seit 1945 konsequent fortführen, zumal jetzt die historischen Gründe für ein Festklammern am alten Staatsangehörigkeitsrecht, die in der späten Formierung des deutschen Nationalstaates und im Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik gegenüber der DDR lagen, entfallen sind. Dieser Wandel, der auch den faktischen Einwanderungsprozeß in die Bundesrepublik seit den 50er Jahren nachvollzieht, ist in der Tat ein "revolutionärer Akt", der von der Gesellschaft, wenn auch widerwillig und zögernd, bereits vollzogen wurde und nun von der politischen Klasse konstitutionell ratifiziert werden muß.
 

Diese Offenheit in der deutschen Gesellschaft muß man jetzt nutzen, bevor sie aufgrund der mit dem Staatsangehörigkeitsrecht oft assoziierten und von der CSU genährten Irritationen zusammenschmilzt. Wenn man die Frage also richtig stellt: "Sind Sie dafür, daß ‚Ausländer’, die in Deutschland geboren sind oder seit einem Jahrzehnt und länger ihren Lebensmittelpunkt hier haben, alle Bürgerrechte und -pflichten bekommen?", kann man einer breiten Zustimmung sicher sein. Dafür sollte die rot-grüne Koalition nun ihrerseits mobilisieren; eine rein gouvernementale und legislative Korrektur reicht nicht aus. Die Befürworter der Reform müssen sich ihren Gegnern in offenem Meinungsstreit stellen und ihr Vorhaben demokratisch unterfüttern. Wenn die Union eine Kampagne veranstaltet, kann das die Anhänger des Regierungsentwurfes nicht hindern, ebenfalls eine solche zu veranstalten.
 

Den Unterschied zwischen Ethnos und Demos respektieren
 

Dazu muß man das von Union, aber auch von Regierungsvertretern, sozialen Bewegungen und Immigrantenverbänden bewußt in den Vordergrund gerückte Institut der doppelten Staatsangehörigkeit relativieren und entdramatisieren. Mehrstaatigkeit ist weder dermaßen von Übel, wie es die Union darstellt, noch ist sie so unvermeidbar, wie dies eine Pauschalgewährung des Doppel-Passes unterstellt. Hinzufügen muß man, daß die Existenz von mittlerweile bald zwei Millionen Mehrstaatlern in Deutschland, darunter Kinder aus binationalen Ehen und das Gros der Aussiedler, von den unionsgeführten Regierungen in der Vergangenheit durch die Verzögerung der Reform selbst herbeigeführt bzw. systematisch gefördert worden ist. Die doppelte Staatsangehörigkeit ist also ein sekundäres Problem, das weitgehend von denen verantwortet werden muß, die jetzt dagegen zu Felde ziehen. Den Fehler, Mehrstaatigkeit deswegen zum Prinzip zu erheben, sollte die rot-grüne Regierung freilich nicht begehen. Sie sollte vielmehr klarmachen, daß sie als Einzelfall- und Übergangsregelung gesehen wird, während der Regelfall der Erwerb einer, nämlich der deutschen Staatsangehörigkeit sein soll – und dafür auch gegen Widerstände bei ihrer eigenen Klientel mit oder ohne deutschen Paß werben. Sicher gibt es Hunderte und Tausende von Fällen, wo der Besitz zweiter Staatsangehörigkeiten unumgänglich ist (vor allem bei Nicht-Entlassung aus der ursprünglichen) oder einsichtige und akzeptable Vorteile darstellt (zum Beispiel bei ohne sie nicht zu erlangenden Erbschaften), sicher stellen auch die von der Union an Extremfällen demonstrierten Loyalitätskonflikte keine schwere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik dar. Auch kann man argumentieren, daß im Zuge der Europäisierung ohnehin eine Flexibilisierung der nationalstaatlichen Identitäten und Identifikationen eintritt, die der von konservativer Seite immer geforderten "Flexibilisierung" aller Lebensverhältnisse unter dem Druck der wirtschaftlichen und technologischen Globalisierung korrespondiert. Aber mit dem Insistieren auf dem Regelfall sollte man ein fatales Mißverständnis ausräumen, welches das ethnische Empfinden vieler Deutscher und das vieler Einwanderer und ihrer Fürsprecher verbindet. Während die einen postulieren, daß Herkunft und Staatsangehörigkeit kongruent sein müssen, wollen die anderen die kulturelle Doppelidentität durch eine politische überhöhen und damit auf Dauer setzen. Diese Vermengung ist deswegen fatal, weil die politische Integration demokratischer Republiken notwendig von kultureller Differenz absehen muß – sie also weder beseitigen soll, noch andererseits fördern darf.
 

Von diesem wesentlichen Unterschied zwischen Ethnos und Demos sind klassische Einwanderungsländer geprägt; jede Reform in Deutschland, die auf politische Integration abzielt, sollte diesen Unterschied respektieren, auch wenn er lebensweltlich oft weniger scharf zu ziehen ist, als es sich die politische Theorie vorzustellen vermag. So muß man sich also auch mit jenen auseinandersetzen, die deswegen auf dem Besitz zweier Pässe insistieren, weil sie "kein Stück Identität weggeben" wollen; ihnen muß man begreiflich machen, daß sie ein Stück politische Identität gewinnen, ohne daß sie damit gezwungen werden, auf die Identifikation mit der Herkunftskultur zu verzichten. Die höchst zögernde Einbürgerung auch jener Immigranten der zweiten Generation, die bereits seit 1993 einen Rechtsanspruch darauf haben, verweist auf die Schwierigkeiten dieser Werbung für eine bedingungslose politische Integration vor allem der Deutsch-Türken. Sie haben Erfahrungen mit der deutschen Vertragstreue gemacht und sichern sich mit dem türkischen Paß den Ausweg für den Fall, daß die alltägliche Diskriminierung zunimmt, vor der sie auch kein "Doppel-Paß" schützen kann. Nicht allein materielle Gründe machen den türkischen Paß zum hochbewerteten Symbol. So reagieren sie auch auf die versteckte oder offen ausgesprochene Unterstellung, Deutsch-Türken paßten aufgrund ihres islamischen Bekenntnisses nicht in "unseren" christlichen Kulturkreis. Dieses von der CSU zu hörende "Hintergrund-Argument" ist schlicht verfassungswidrig und erschwert die Konsolidierung eines "deutschen Islam", den die meisten Muslime in Deutschland längst faktisch praktizieren. Fatal ist allerdings, daß ausgerechnet die politisch-kulturell und sozial am wenigsten integrierten Deutsch-Türken im türkischen Paß eine Grundlage ihrer ethnischen und religiösen Sonderstellung erblicken können und als virtuelle Staatsbürger der Türkei in Deutschland leben. Diese nimmt im übrigen in der gesamten Einbürgerungsdebatte keine hilfreiche Position ein. Auch wenn dies angesichts gebrochener Versprechen über eine rasche Assoziation der Türkei mit der EU wiederum verständlich ist, dürfen die Deutsch-Türken in der gegenwärtigen Debatte nicht zu "Opfern" deutscher Versäumnisse stilisiert werden, und erst recht darf dieser Opferstatus nicht mit der doppelten politischen Identität kompensiert werden. 

Claus Leggewie


© 1999 Blätter für deutsche und internationale Politik