Die Frustration ist verständlich, aber es wäre fatal, wenn
sie jetzt zu Resignation führen würde. Die erneute, für
weniger Engagierte auch erstmalige Debatte um Pro und Kontra der in der
rot-grünen Koalitionsvereinbarung vereinbarten Reform ist notwendig
und unumgänglich, und die Befürworter dürfen sich jetzt
nicht zu schade sein, den Meinungsstreit erneut auszufechten. Gegen die
von der Union in Hessen gestartete und bundesweit angekündigte Unterschriftenaktion
ist ebensowenig einzuwenden wie gegen den von der CSU und Rupert Scholz
(CDU) angekündigten "Gang nach Karlsruhe"; beides sind übliche
Oppositionsmanöver, um die Regierungskoalition einzuschüchtern,
wenn eine parlamentarische Niederlage droht.
Zwar ist es merkwürdig und auch beschämend, daß sich
die "große Volkspartei der Mitte", die Schäubles CDU bleiben
(oder wieder werden) möchte, nun schon aufs Unterschriftensammeln
verlegen muß, aber solche Aktionen sind legitime vor- und außerparlamentarische
Mittel im Kampf um die Meinungsführerschaft und die Mobilisierung
der eigenen Basis wie der potentiellen Wählerschaft.
Rot-grüne Kritiker mögen sich an ihre APO- und Oppositionszeit
erinnern und daran, daß Befürworter der doppelten Staatsangehörigkeit
1993 ein ähnlich informelles Referendum veranstalteten und dabei über
eine Million Unterschriften sammelten, um den Asylkompromiß und den
negativen Bescheid über das kommunale Wahlrecht und andere politische
Schritte politischer Integration zu kontern. Damals schrieben auch 60 Professoren
ein "Manifest" für eine neue Einwanderungspolitik – von ihnen würde
man jetzt gerne eine ähnlich engagierte Meldung vernehmen.
Unterschriftensammeln und der angekündigte Gang zum Bundesverfassungsgericht
sind also legitim – auch wenn sie in diesem Fall töricht sein mögen.
Denn beides verheißt wenig Aussicht auf Erfolg. Im ersten Fall verwechseln
Berufspolitiker in der üblichen déformation professionelle
Demoskopie und Demokratie, im zweiten Fall werden sie mit einiger Sicherheit
auf die Nase fallen, gleichgültig, ob sie nach Karlsruhe oder nach
Straßburg ziehen. Der Europäische Gerichtshof wird sich für
unzuständig erklären oder an der deutschen Gewährung von
Mehrstaatigkeit als europaüblicher Praxis nichts auszusetzen haben
und auch nichts entdecken können, was der Europäischen Union
zuwiderlaufen könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung
von 1990 zum kommunalen Wahlrecht dem Gesetzgeber eben den Weg gewiesen,
den er jetzt zu beschreiten gedenkt: nicht halbe Integration über
ein Wahlrecht für Nicht-Deutsche, sondern volle politische Integration
durch Einbürgerung. Von Karlsruhe führt kein Weg mehr zurück
zum überholten Staatsangehörigkeitsrecht von 1913.
Beide Aktionen werden wohl demonstrieren, daß die jahrelange Kombination
von Angstpopulismus und Hysterie bei der inneren Sicherheit, institutionalisiert
in der Koalition zwischen konservativen Juristen der Innenministerien und
Bierzeltpolitikern, an Kraft verloren hat. Auch in Frankreich und Österreich
sind Politiker, die ihre restriktiven und völkischen Überzeugungen
dem harten Test von Volksbefragungen ausgesetzt haben, auf den Boden der
Tatsachen zurückgeholt worden: Sie repräsentieren nicht, wie
die CSU vollmundig proklamiert, drei Viertel der Wählerschaft, sondern
höchstens ein Fünftel. Nach jüngsten Meinungsumfragen ist
nur eine knappe Mehrheit gegen die Gewährung der doppelten Staatsangehörigkeit,
wobei insbesondere die Wählergruppen, bei denen die Union das stärkste
Defizit aufweist – junge, höher gebildete Frauen in Dienstleistungsberufen
– ihr am aufgeschlossensten gegenüberstehen. Mit einer Unterschriftenaktion
kann die Union höchstens verunsicherte Stammanhänger an sich
binden, aber nicht die "neue Mitte" wiedergewinnen. Die andere Lehre für
die moderate Rechte lautet, daß die Nutznießer plebiszitärer
Kampagnen bisher eher die radikalen Rivalen waren. Dieses Exempel wird
jetzt wohl an Roland Koch, dem Spitzenkandidaten der CDU in Hessen, statuiert
werden. Er hat die Aktion zum zentralen Mobilisierungselement seiner ansonsten
kaum auf Touren kommenden Kampagne gemacht und die Meßlatte sehr
hoch gelegt: Die Regierung werde sich kaum noch trauen, das Staatsangehörigkeitsrecht
zu reformieren, wenn sie in Wiesbaden aus der Macht entfernt werde. Umgekehrt
wird ein Schuh daraus: Die Union wird sich derartige Aktionen künftig
dreimal überlegen, wenn das Wahlvolk dieses Kalkül nicht mitmacht,
die eigene Funktionärsbasis irritiert ist – und die halbtoten hessischen
REPs Punkte gemacht haben.
Schäubles Risiko
Die innerparteilichen Kritiker sind noch stark genug und haben der Aktion
nur zugestimmt, um den Partei- und Fraktionschef Schäuble nicht schon
nach drei Monaten zu desavouieren. Prominente und sachverständige
Unionspolitiker werden aber nicht mitmachen, ganze Orts- und Landesverbände
haben ziemlich unverhohlen ihren passiven Widerstand gegen diese danebengeratene
Aktion
zivilen Widerstands angekündigt. Sie haben aus dem Debakel der Union
nach 1969 gelernt, als sie auch schon einmal daran scheiterte, den Verlust
der Macht durch außerparlamentarische Mobilisierung (gegen die Ostverträge)
zu kompensieren. Natürlich kann ein halbwegs respektables Ergebnis
der Unterschriftenaktion das Abstimmungsverhalten von Unionsabgeordneten
beeinflussen; aber ihre Loyalität ist in der Opposition nicht mehr
so unabdingbar, zumal die FDP sich mit einem Kompromißvorschlag als
wiedererweckte Bürgerrechtspartei profiliert und es damit keine Gemeinsamkeit
in der Opposition mehr gibt.
So kann die ganze Aktion eher auf eine Niederlage für Stoiber und
die CSU-Landesgruppe hinauslaufen. Vielleicht ist dies sogar das Ziel des
Taktikers Schäuble, der selbst freilich ein hohes Risiko eingeht.
Er fällt deutlich erkennbar hinter seine eigene Position als Innenminister
zurück, die eine erfreuliche Abkehr von der Zimmermann-Linie der Union
darstellte, und er läuft Gefahr, sich mit einem Gesichts- und Machtverlust
gegenüber Volker Rühe und seinen jüngeren Vizevorsitzenden
bloß als Übergangschef der Union zu entpuppen. Bereits jetzt
stellt die CDU unter Beweis, daß sie den Gleichschritt mit den christlichen
Kirchen und der Gesellschaft, die ihre Verbände repräsentieren,
verloren hat. Ein unwahrscheinlicher Erfolg der Unterschriftenaktion wäre
nur ein Danaergeschenk für Schäuble: Er hätte Erwartungen
in der Ausländer- und Einwanderungspolitik geweckt, die er nicht einlösen
könnte – und mit seinem Rückpaß der im September 1998 geschlagenen
radikalen Rechten eine Steilvorlage geliefert.
Das andere, so deklarierte taktische Ziel Schäubles ist eine "Politik
der Abschreckung", um die Sozialdemokraten zum Einlenken und substantiellen
Kompromissen zu bewegen, die als Unions-Erfolg zu verkaufen wären.
Führende Sozialdemokraten wie der Parteivorsitzende Lafontaine, Innenminister
Schily und Schröders Nachfolger in Hannover, Ministerpräsident
Glogowski, haben signalisiert, daß sie diesen Ball aufnehmen wollen.
Der Grund dafür scheint klar: Ein Einlenken stellt eine erneute Chance
dar, sich von den "radikalen" Grünen zu distanzieren, und die an der
eigenen Basis feststellbare Unsicherheit zu beheben. Man braucht sich nur
bei SPD-Mitgliedern "draußen im Lande" umzuhören, um Positionen
wahrzunehmen, die von der der CSU nicht so weit entfernt sind. Auch die
Mehrheit der traditionellen SPD-Anhänger hält nicht viel vom
"Doppel-Paß".
Wenn ein Kompromiß nicht an die Substanz der Reform geht, ist
er in jeder Hinsicht zu befürworten. An die Substanz jedoch geht Otto
Schilys Vorschlag, die potentiellen Neubürger wie Beamte dem Lackmustest
der Verfassungstreue zu unterziehen; an eine solche Voraussetzung, die
im übrigen praktisch nicht nachprüfbar ist, können Bürgerrechte
nicht gebunden werden. Die Neugestaltung des Staatsangehörigkeitsrechtes
(die noch wesentliche andere Kapitel der Ausländer- und Einwanderungspolitik
tangiert) muß also auf ihren konsensfähigen Kern konzentriert
werden. Im Fußball ist der Doppel-Paß ein hübsch anzusehender
Spielzug, aber der direkte Schuß aufs Tor kann auch zum Erfolg führen.
Und der Kern der Reform ist die Ergänzung des Abstammungsprinzips
(ius sanguinis) durch eine gute Dosis Territorialprinzip (ius soli). Dieser
Schritt würde die politisch-kulturelle Verwestlichung der Bundesrepublik
seit 1945 konsequent fortführen, zumal jetzt die historischen Gründe
für ein Festklammern am alten Staatsangehörigkeitsrecht, die
in der späten Formierung des deutschen Nationalstaates und im Alleinvertretungsanspruch
der Bundesrepublik gegenüber der DDR lagen, entfallen sind. Dieser
Wandel, der auch den faktischen Einwanderungsprozeß in die Bundesrepublik
seit den 50er Jahren nachvollzieht, ist in der Tat ein "revolutionärer
Akt", der von der Gesellschaft, wenn auch widerwillig und zögernd,
bereits vollzogen wurde und nun von der politischen Klasse konstitutionell
ratifiziert werden muß.
Diese Offenheit in der deutschen Gesellschaft muß man jetzt nutzen,
bevor sie aufgrund der mit dem Staatsangehörigkeitsrecht oft assoziierten
und von der CSU genährten Irritationen zusammenschmilzt. Wenn man
die Frage also richtig stellt: "Sind Sie dafür, daß ‚Ausländer’,
die in Deutschland geboren sind oder seit einem Jahrzehnt und länger
ihren Lebensmittelpunkt hier haben, alle Bürgerrechte und -pflichten
bekommen?", kann man einer breiten Zustimmung sicher sein. Dafür sollte
die rot-grüne Koalition nun ihrerseits mobilisieren; eine rein gouvernementale
und legislative Korrektur reicht nicht aus. Die Befürworter der Reform
müssen sich ihren Gegnern in offenem Meinungsstreit stellen und ihr
Vorhaben demokratisch unterfüttern. Wenn die Union eine Kampagne veranstaltet,
kann das die Anhänger des Regierungsentwurfes nicht hindern, ebenfalls
eine solche zu veranstalten.
Den Unterschied zwischen
Ethnos und Demos respektieren
Dazu muß man das von Union, aber auch von Regierungsvertretern,
sozialen Bewegungen und Immigrantenverbänden bewußt in den Vordergrund
gerückte Institut der doppelten Staatsangehörigkeit relativieren
und entdramatisieren. Mehrstaatigkeit ist weder dermaßen von Übel,
wie es die Union darstellt, noch ist sie so unvermeidbar, wie dies eine
Pauschalgewährung des Doppel-Passes unterstellt. Hinzufügen muß
man, daß die Existenz von mittlerweile bald zwei Millionen Mehrstaatlern
in Deutschland, darunter Kinder aus binationalen Ehen und das Gros der
Aussiedler, von den unionsgeführten Regierungen in der Vergangenheit
durch die Verzögerung der Reform selbst herbeigeführt bzw. systematisch
gefördert worden ist. Die doppelte Staatsangehörigkeit ist also
ein sekundäres Problem, das weitgehend von denen verantwortet werden
muß, die jetzt dagegen zu Felde ziehen. Den Fehler, Mehrstaatigkeit
deswegen zum Prinzip zu erheben, sollte die rot-grüne Regierung freilich
nicht begehen. Sie sollte vielmehr klarmachen, daß sie als Einzelfall-
und Übergangsregelung gesehen wird, während der Regelfall der
Erwerb einer, nämlich der deutschen Staatsangehörigkeit sein
soll – und dafür auch gegen Widerstände bei ihrer eigenen Klientel
mit oder ohne deutschen Paß werben. Sicher gibt es Hunderte und Tausende
von Fällen, wo der Besitz zweiter Staatsangehörigkeiten unumgänglich
ist (vor allem bei Nicht-Entlassung aus der ursprünglichen) oder einsichtige
und akzeptable Vorteile darstellt (zum Beispiel bei ohne sie nicht zu erlangenden
Erbschaften), sicher stellen auch die von der Union an Extremfällen
demonstrierten Loyalitätskonflikte keine schwere Gefahr für die
Sicherheit der Bundesrepublik dar. Auch kann man argumentieren, daß
im Zuge der Europäisierung ohnehin eine Flexibilisierung der nationalstaatlichen
Identitäten und Identifikationen eintritt, die der von konservativer
Seite immer geforderten "Flexibilisierung" aller Lebensverhältnisse
unter dem Druck der wirtschaftlichen und technologischen Globalisierung
korrespondiert. Aber mit dem Insistieren auf dem Regelfall sollte man ein
fatales Mißverständnis ausräumen, welches das ethnische
Empfinden vieler Deutscher und das vieler Einwanderer und ihrer Fürsprecher
verbindet. Während die einen postulieren, daß Herkunft und Staatsangehörigkeit
kongruent sein müssen, wollen die anderen die kulturelle Doppelidentität
durch eine politische überhöhen und damit auf Dauer setzen. Diese
Vermengung ist deswegen fatal, weil die politische Integration demokratischer
Republiken notwendig von kultureller Differenz absehen muß – sie
also weder beseitigen soll, noch andererseits fördern darf.
Von diesem wesentlichen Unterschied zwischen Ethnos und Demos sind klassische Einwanderungsländer geprägt; jede Reform in Deutschland, die auf politische Integration abzielt, sollte diesen Unterschied respektieren, auch wenn er lebensweltlich oft weniger scharf zu ziehen ist, als es sich die politische Theorie vorzustellen vermag. So muß man sich also auch mit jenen auseinandersetzen, die deswegen auf dem Besitz zweier Pässe insistieren, weil sie "kein Stück Identität weggeben" wollen; ihnen muß man begreiflich machen, daß sie ein Stück politische Identität gewinnen, ohne daß sie damit gezwungen werden, auf die Identifikation mit der Herkunftskultur zu verzichten. Die höchst zögernde Einbürgerung auch jener Immigranten der zweiten Generation, die bereits seit 1993 einen Rechtsanspruch darauf haben, verweist auf die Schwierigkeiten dieser Werbung für eine bedingungslose politische Integration vor allem der Deutsch-Türken. Sie haben Erfahrungen mit der deutschen Vertragstreue gemacht und sichern sich mit dem türkischen Paß den Ausweg für den Fall, daß die alltägliche Diskriminierung zunimmt, vor der sie auch kein "Doppel-Paß" schützen kann. Nicht allein materielle Gründe machen den türkischen Paß zum hochbewerteten Symbol. So reagieren sie auch auf die versteckte oder offen ausgesprochene Unterstellung, Deutsch-Türken paßten aufgrund ihres islamischen Bekenntnisses nicht in "unseren" christlichen Kulturkreis. Dieses von der CSU zu hörende "Hintergrund-Argument" ist schlicht verfassungswidrig und erschwert die Konsolidierung eines "deutschen Islam", den die meisten Muslime in Deutschland längst faktisch praktizieren. Fatal ist allerdings, daß ausgerechnet die politisch-kulturell und sozial am wenigsten integrierten Deutsch-Türken im türkischen Paß eine Grundlage ihrer ethnischen und religiösen Sonderstellung erblicken können und als virtuelle Staatsbürger der Türkei in Deutschland leben. Diese nimmt im übrigen in der gesamten Einbürgerungsdebatte keine hilfreiche Position ein. Auch wenn dies angesichts gebrochener Versprechen über eine rasche Assoziation der Türkei mit der EU wiederum verständlich ist, dürfen die Deutsch-Türken in der gegenwärtigen Debatte nicht zu "Opfern" deutscher Versäumnisse stilisiert werden, und erst recht darf dieser Opferstatus nicht mit der doppelten politischen Identität kompensiert werden.
© 1999 Blätter
für deutsche und internationale Politik