Polarisieren oder integrieren

Der aktuelle Streit um die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und die Einführung der "doppelten Staatsangehörigkeit" droht die bundesdeutsche Gesellschaft in einem Ausmaß zu polarisieren, wie dies seit den Auseinandersetzungen um die Brandtsche Ostpolitik zu Beginn der 70er Jahre nicht mehr der Fall war. Anders als damals handelt es sich nicht nur um eine Polarisierung zwischen "rechts" und "links", zwischen "konservativ" und "progressiv", sondern erstmals auch zwischen "Deutschen" und "Ausländern", zwischen "Eingesessenen" und "Einwanderern". Das gesellschaftliche Klima wird sich dadurch auf Jahre hinaus nachhaltig verschlechtern, Integrationsfortschritte, über Jahrzehnte hinweg mühsam erarbeitet, gehen verloren. Die politische und gesellschaftliche Elite in Deutschland hat diese verhängnisvolle Entwicklung nicht nur nicht verhindert, sondern zum großen Teil selbst initiiert und zu verantworten.
 

Obwohl seit Anfang der 60er Jahre mehr Zuwanderer nach Deutschland kamen, als in jedes andere vergleichbare Land, fehlt es bis heute an einem schlüssigen Zuwanderungs- und Integrationskonzept. Das hat die Lösung der durch die Zuwanderung entstandenen enormen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Probleme erschwert und bei den Betroffenen – Deutschen wie Ausländern – das Gefühl entstehen lassen, von der Politik im Stich gelassen zu werden. Seit Jahren sind daher ein Anstieg latenter Ausländerfeindlichkeit einerseits und ein Rückgang der Integrationsbereitschaft hier lebender Ausländer andererseits zu beobachten. Daraus entstandene Spannungen wurden durch anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Verteilungskonflikte zusätzlich verschärft.
 

Die verbreitete Illusion, jene durch große Einwanderungswellen ausgelösten Veränderungen seien reversibel, hat zur Problematik selbst beigetragen. Sowohl die Politik als auch die Betroffenen gingen lange Zeit davon aus, daß die "Gastarbeiter" der ersten Generation nach einigen Jahren, spätestens jedoch nach Erreichen des Rentenalters in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Als man seit Anfang der 80er Jahre feststellte, daß sich diese Erwartung nicht erfüllt, setzte die Politik noch eine zeitlang auf freiwillige Rückkehranreize – ohne eine grundlegende Änderung der Situation zu bewirken. Zwar haben die politisch Verantwortlichen ihre Fehleinschätzung inzwischen weitgehend erkannt, es fehlt ihnen jedoch bis heute der Mut, dies öffentlich einzugestehen und ihre Wähler mit der Realität zu konfrontieren.
 

Eine Hauptaufgabe besteht also zunächst darin, die Erkenntnis von der Endgültigkeit der eingetretenen Veränderungen im gesellschaftlichen Bewußtsein zu verankern. Dies betrifft alle Bereiche: Der "Ausländeranteil" in Deutschland wird selbst bei wirksamer Zuzugsbegrenzung auch künftig steigen (allein 100000 ausländische Kinder werden jährlich in Deutschland neu geboren); neben dem Christentum entwickelt sich der Islam auf Dauer zur zweiten großen und zahlenmäßig starken Religion in Deutschland; Italienisch und Türkisch, ausländische Kultur, Folklore und Geschäfte gehören auf Jahrzehnte hinaus zum Erscheinungsbild des öffentlichen Lebens. Angehörige der Einwandergruppen werden in alle Bereiche der Gesellschaft aufsteigen und in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Medien auch Führungsverantwortung übernehmen. Bislang empfindet ein großer Teil der deutschen Bevölkerung diese Veränderungen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung. Er erwartet, vor diesen Veränderungen bewahrt zu werden. Bereits eingetretene Veränderungen wünscht er rückgängig zu machen. Da die Politik diesem Anspruch weder jetzt noch in Zukunft genügen kann, besteht mittel- und langfristig die Gefahr einer Aufwertung radikaler und extremer Parteien. Es liegt daher im ureigenen Interesse der politischen Elite in Deutschland, die Bevölkerung über die Realtitäten aufzuklären und Akzeptanz für die dringend notwendige Politik der Integration zu schaffen. Aufgrund der jahrzehntelangen Versäumnisse handelt es sich dabei um einen äußerst schwierigen Prozeß, doch nur aus diesem Prozeß heraus läßt sich die Notwendigkeit von Einzelmaßnahmen, wie z.B. der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts oder der Einführung von islamischem Religionsunterricht stichhaltig begründen.
 

Reizthema Doppel-Paß
 

Die Diskussion über die sogenannte "doppelte Staatsangehörigkeit" ist seit einigen Jahren zu dem innenpolitischen Reiz- und Symbolthema schlechthin geworden. Die Gegner verbinden mit ihrem pauschalen Nein die Angst vor weiterer "massenhafter" Zuwanderung, ethnischer und kultureller "Überfremdung" und sehen die innere Sicherheit, ja gar die überkommene Staats- und Gesellschaftsordnung, durch die Einführung einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit in ihren Grundfesten gefährdet. Für die Befürworter ist dieser Ansatz hingegen zu einem Symbol, ja geradezu zu einem Synonym für Integration und Gleichberechtigung geworden. Beide Sichtweisen werden der tatsächlichen Bedeutung des Rechtsinstituts der doppelten Staatsangehörigkeit nicht gerecht. Ihre – zum Teil groteske – ideologische Überhöhung beruht auf Mißverständnissen, Fehlinterpretationen und Unterstellungen und verhindert bis heute eine rationale Diskussion der Vor- und Nachteile.
 

So wird zum Beispiel gegen die doppelte Staatsangehörigkeit vorgebracht, sie führe über erweiterten Familiennachzug zu mehr Zuwanderung, verhindere die Abschiebung "krimineller" Ausländer und ermögliche die Austragung fremder Konflikte (z.B. im ehemaligen Jugoslawien) auf deutschem Boden. Doch die befürchteten negativen Folgen ergeben sich sämtlich – wenn überhaupt – aus der Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit als solcher, nicht jedoch daraus, ob der Betroffene daneben noch einen, zwei oder mehrere andere Pässe besitzt. Die entscheidende Frage lautet daher, unter welchen Voraussetzungen die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt werden darf (z.B. Straffreiheit, Verfassungs- und Gesetzestreue).
 

Weiter hört man, doppelte Staatsangehörigkeit führe zu doppelter Loyalität – obwohl Loyalität keinerlei juristische Kategorie ist und nichts mit dem Paß oder der Staatsangehörigkeit zu tun hat. Die allermeisten Einwanderer stehen auch ohne deutsche Staatsangehörigkeit dem deutschen Staat wesentlich loyaler gegenüber, als z.B. – um den Vergleich von Ministerpräsident Stoiber aufzugreifen – die Terroristen der ehemaligen RAF (mit ausschließlich deutschem Paß). Loyalität läßt sich nicht gesetzlich verordnen, sondern ist in der Regel das Ergebnis gelungener Sozialisation und Integration. Im übrigen kann zwar kein Gemeinwesen ohne ein Mindestmaß an Loyalität seiner Bürger auf Dauer Bestand haben, einklagbar ist sie jedoch nicht.
 

Gegner der doppelten Staatsangehörigkeit behaupten auch, sie führe zur "multikulturellen Gesellschaft" – während umgekehrt viele ausländische Mitbürger annehmen, bei der Einbürgerung müßten sie mit ihrem alten Paß gleichsam auch ihre kulturelle Identität sozusagen an der Garderobe abgeben. Beide Befürchtungen sind falsch. Zwar ist das Grundgesetz vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten, christlich-abendländischen Kultur- und Gesellschaftsordnung entstanden, aber diese vorgefunde Ordnung wird nicht ihrerseits von der Verfassung gewährleistet. Vielmehr hat jeder, der in Deutschland lebt, ganz gleich ob mit oder ohne deutschem Paß, ob Einfach- oder Doppelstaatler, innerhalb der bestehenden Gesetze die Möglichkeit, seine eigene Identät und Kultur nicht nur zu bewahren, sondern auch zu entwickeln. So wie deutsche Einwanderer in Rußland oder in den USA über Jahrhunderte hinweg und zum Teil bis heute deutsche Spache und Kultur bewahrt und gepflegt haben, können dies umgekehrt auch die in Deutschland dauerhaft lebenden Ausländer, und zwar auch dann, wenn sie sich einbürgern lassen und ihre alte Staatsangehörigkeit ablegen. Daß die Bundesrepublik kulturell bunter und vielfältiger wird, ist direkte Folge der gesellschaftlichen Veränderungen, ausgelöst durch die massive Einwanderung der letzten Jahrzehnte. Dieser Prozeß wird auch in Zukunft weitergehen, selbst wenn es keinen einzigen zusätzlichen Doppelstaatler geben sollte.
 

Die rechtlichen und administrativen Probleme, die im Zusammenhang mit doppelter Staatsangehörigkeit oft angeführt werden, sind fast allesamt konstruiert, da das Internationale Privatrecht mit seinen Kollisionsnormen schon heute weitgehend konfliktfreie Lösungen erlaubt. Auch Fragen wie die der doppelten Wehrpflicht sind zum großen Teil bereits gelöst oder mit geringem Aufwand zu regeln.
 

Hartnäckig hält sich das Vorurteil von der Privilegierung, die mit der doppelten Staatsangehörigkeit einhergehe. Doch zum einen stehen den mit der Staatsangehörigkeit verbundenen Rechten stets auch Pflichten gegenüber, zum anderen hat der zweite Paß im Alltagsleben so gut wie keine Relevanz, sieht man einmal davon ab, daß der Inhaber unter Umständen in zwei Staaten über das Wahlrecht verfügt. Dem wiederum kann man zwar durchaus kritisch gegenüberstehen – allerdings wäre auch zu bedenken, inwieweit die vor einiger Zeit erfolgte Verleihung des Wahlrechts an im Ausland lebende Türken nicht gerade dazu führt, daß dadurch die demokratischen Parteien in der Türkei gegen die im Vordringen befindlichen Islamisten gestärkt werden.
 

Das einzig echte Argument, das m. E. gegen die Zulassung einer generellen doppelten Staatsbürgerschaft spricht, handelt von den gesellschaftlichen Konflikten, die dadurch möglicherweise begünstigt werden. Gerade weil es gegen die doppelte Staatsangehörigkeit in der Bevölkerung (zwar größtenteils unbegründete aber) weitverbreitete Vorbehalte und Ängste gibt, muß die Politik sich fragen, ob diese Ängste tatsächlich (mit noch so teuren) staatlichen Informationskampagnen innerhalb weniger Monate ausgeräumt werden können, oder ob es sich nicht vielmehr um einen jahrelangen Prozeß handelt, der durch plötzliche radikale Veränderungen eher belastet würde. Es besteht zudem die Gefahr, daß sich bei "deutschen" Arbeitnehmern, die sich in ihrem Betrieb der Konkurrrenz durch zum Teil besser motivierte und zuverlässigere "ausländische" Arbeitskollegen gegenübersehen, das subjektive Befinden einstellt, daß die bislang rechtlich eher diskriminierten ausländischen Arbeitnehmer im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen nunmehr privilegiert sein könnten. Auf derartige Entwicklungen und ihre Folgen hat die Politik kaum Einfluß, bedenken muß sie sie gleichwohl.
 

Die generelle Zulassung der doppelten Staatsangehörigkeit muß daher unter dem zuletzt behandelten Gesichtspunkt als problematisch beurteilt werden – und für das Gelingen der Integration ist sie nicht erforderlich. Reicht dies als Grund für "Unterschriftenaktionen" und ähnliche "Kampagneformen", wie sie seit Mitte Januar diskutiert und vorbereitet werden? Ohne Zweifel muß der gesellschaftliche Diskurs auch über derartige Fragen möglich sein, doch tragen Aktionen wie die erwähnten in diesem sensiblen Bereich keineswegs zum Abbau, wohl aber zur Verschärfung der bestehenden Mißverständnisse und Vorurteile bei. Sie bergen die Gefahr einer weiteren Polarisierung, einer Veränderung des gesellschaftlichen Klimas, die dann von der Politik nicht einfach wieder rückgängig gemacht werden könnte. Selbst wenn dabei das Ziel der Integration gleichberechtigt mit der Ablehnung der doppelten Staatsangehörigkeit behandelt wird, werden die allermeisten der hierzulande lebenden Ausländer derartige Kampagnen als unmittelbar gegen sie und ihre Anwesenheit gerichtet empfinden. Den Initiatoren solcher Aktionen wird es das Gespräch mit in Deutschland lebenden Ausländern auf lange Zeit erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen.
 

Eine Art deutscher Einigung
 

Es gehört zu den positiven Erfahrungen der deutschen Nachkriegsgeschichte, daß in fundamentalen und schwierigen Fragen der Innen- und Außenpolitik ein parteiübergreifender Konsens hergestellt werden konnte – was der Lösung dieser Probleme sehr zugute kam. So fand man zusammen, als es um die deutsche Einheit ging, und ebenso konsensual hat man die Europäische Einigung (mit)betrieben, zuletzt deutlich bei der Einführung des Euro. Die Bewältigung der 30 Jahre andauernden Einwanderung durch Integration der rechtmäßig und dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer in unsere Gesellschaft ist von vergleichbarer Qualität – ein Thema von entscheidender Bedeutung für die Zukunft und den sozialen Frieden in unserem Land, aber auch in hohem Maße anfällig für populistische Stimmungsmache. Deshalb sollte es im nationalen Konsens bewältigt werden.
 

Bislang kam ein solcher nicht zustande, er wurde nicht einmal ernsthaft versucht. Zuletzt hat es die Union während zweier Legislaturperioden nicht geschafft, zur Neuordnung des Staatsangehörigkeitsrechts einen Vorschlag zu präsentieren, der parlamentarisch und gesellschaftlich mehrheitsfähig gewesen wäre. Die neue Bundesregierung, die von der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bis hin zum Atomausstieg überall für Runde Tische plädiert und sie auch realisiert, hat in Verkennung der gesellschaftlichen Realität offenbar angekommen, die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts alleine bewältigen zu können und sich der Einführung einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit verschrieben, ohne zuvor das Gespräch mit der Opposition und den relevanten gesellschaftlichen Gruppen zu suchen.
 

Sollte das Thema nunmehr zu Wahlkampfzwecken und als Instrument des innenpolitischen Machtkampfes zwischen Regierung und Opposition gebraucht werden, wären die Leidtragen nicht nur die hier lebenden Ausländer. In Frankfurt am Main beträgt der Anteil der Ausländer unter den Jugendlichen bis 20 Jahre mehr als 45%. Die daraus ohnehin entstehenden Spannungen dürfen keinesfalls noch weiter verschärft werden.
 

Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts kann für sich alleine den Erfolg der Integration nicht gewährleisten, aber sie gibt ein wichtiges Signal. Und dieses Signal zu setzen, das ist auch ohne die Einführung einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit möglich – etwa dadurch, daß man das ius sanguinis (Abstammungsrecht) durch das ius soli ergänzt und es so den in Deutschland geborenen ausländischen Jugendlichen ermöglicht, als Deutsche aufzuwachsen, mit allen Rechten und Pflichten. Das geht rechtlich aber nur, wenn man bis zur Erreichung der Volljährigkeit das Bestehen doppelter Staatsangehörigkeit in Kauf nimmt. Zu überlegen ist darüber hinaus, ob nicht gegenüber der allerersten Einwanderergeneration eine besondere Geste der Dankbarkeit für die erbrachten Leistungen sinnvoll wäre.
 

Integration vollzieht sich nicht als einmaliger Akt, sondern als Prozeß, schrittweise und über mehrere Generationen. Es ist legitim, darüber nachzudenken, ob durch die vermehrte Zulassung ausnahmsweiser oder zeitlich befristeter doppelter Staatsangehörigkeit dieser Integrationsprozeß beschleunigt werden kann. Die Verleihung der Staatsangehörigkeit kann durchaus ein Mittel zur Integration sein; deshalb wäre es völlig falsch, ihre Zuerkennung erst nach erfolgter Integration zuzulassen. Auch in den kommenden Jahren wird es weitere Zuwanderung nach Deutschland geben – wenngleich in wesentlich geringerem Umfang als jene der 60er und 70er Jahre. Deren Folgen nun endlich zu bewältigen heißt auch, ein "Übergangsproblem" zu lösen – und dies müßte in einer vernünftigen Reform Niederschlag finden.

Peter Altmaier
 
© 1999 Blätter für deutsche und internationale Politik