Obwohl seit Anfang der 60er Jahre mehr Zuwanderer nach Deutschland kamen,
als in jedes andere vergleichbare Land, fehlt es bis heute an einem schlüssigen
Zuwanderungs- und Integrationskonzept. Das hat die Lösung der durch
die Zuwanderung entstandenen enormen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Probleme erschwert und bei den Betroffenen – Deutschen wie Ausländern
– das Gefühl entstehen lassen, von der Politik im Stich gelassen zu
werden. Seit Jahren sind daher ein Anstieg latenter Ausländerfeindlichkeit
einerseits und ein Rückgang der Integrationsbereitschaft hier lebender
Ausländer andererseits zu beobachten. Daraus entstandene Spannungen
wurden durch anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen
Verteilungskonflikte zusätzlich verschärft.
Die verbreitete Illusion, jene durch große Einwanderungswellen
ausgelösten Veränderungen seien reversibel, hat zur Problematik
selbst beigetragen. Sowohl die Politik als auch die Betroffenen gingen
lange Zeit davon aus, daß die "Gastarbeiter" der ersten Generation
nach einigen Jahren, spätestens jedoch nach Erreichen des Rentenalters
in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Als man seit
Anfang der 80er Jahre feststellte, daß sich diese Erwartung nicht
erfüllt, setzte die Politik noch eine zeitlang auf freiwillige Rückkehranreize
– ohne eine grundlegende Änderung der Situation zu bewirken. Zwar
haben die politisch Verantwortlichen ihre Fehleinschätzung inzwischen
weitgehend erkannt, es fehlt ihnen jedoch bis heute der Mut, dies öffentlich
einzugestehen und ihre Wähler mit der Realität zu konfrontieren.
Eine Hauptaufgabe besteht also zunächst darin, die Erkenntnis von
der Endgültigkeit der eingetretenen Veränderungen im gesellschaftlichen
Bewußtsein zu verankern. Dies betrifft alle Bereiche: Der "Ausländeranteil"
in Deutschland wird selbst bei wirksamer Zuzugsbegrenzung auch künftig
steigen (allein 100000 ausländische Kinder werden jährlich in
Deutschland neu geboren); neben dem Christentum entwickelt sich der Islam
auf Dauer zur zweiten großen und zahlenmäßig starken Religion
in Deutschland; Italienisch und Türkisch, ausländische Kultur,
Folklore und Geschäfte gehören auf Jahrzehnte hinaus zum Erscheinungsbild
des öffentlichen Lebens. Angehörige der Einwandergruppen werden
in alle Bereiche der Gesellschaft aufsteigen und in Politik, Wirtschaft,
Verwaltung und Medien auch Führungsverantwortung übernehmen.
Bislang empfindet ein großer Teil der deutschen Bevölkerung
diese Veränderungen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung.
Er erwartet, vor diesen Veränderungen bewahrt zu werden. Bereits eingetretene
Veränderungen wünscht er rückgängig zu machen. Da die
Politik diesem Anspruch weder jetzt noch in Zukunft genügen kann,
besteht mittel- und langfristig die Gefahr einer Aufwertung radikaler und
extremer Parteien. Es liegt daher im ureigenen Interesse der politischen
Elite in Deutschland, die Bevölkerung über die Realtitäten
aufzuklären und Akzeptanz für die dringend notwendige Politik
der Integration zu schaffen. Aufgrund der jahrzehntelangen Versäumnisse
handelt es sich dabei um einen äußerst schwierigen Prozeß,
doch nur aus diesem Prozeß heraus läßt sich die Notwendigkeit
von Einzelmaßnahmen, wie z.B. der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
oder der Einführung von islamischem Religionsunterricht stichhaltig
begründen.
Reizthema Doppel-Paß
Die Diskussion über die sogenannte "doppelte Staatsangehörigkeit"
ist seit einigen Jahren zu dem innenpolitischen Reiz- und Symbolthema schlechthin
geworden. Die Gegner verbinden mit ihrem pauschalen Nein die Angst vor
weiterer "massenhafter" Zuwanderung, ethnischer und kultureller "Überfremdung"
und sehen die innere Sicherheit, ja gar die überkommene Staats- und
Gesellschaftsordnung, durch die Einführung einer generellen doppelten
Staatsangehörigkeit in ihren Grundfesten gefährdet. Für
die Befürworter ist dieser Ansatz hingegen zu einem Symbol, ja geradezu
zu einem Synonym für Integration und Gleichberechtigung geworden.
Beide Sichtweisen werden der tatsächlichen Bedeutung des Rechtsinstituts
der doppelten Staatsangehörigkeit nicht gerecht. Ihre – zum Teil groteske
– ideologische Überhöhung beruht auf Mißverständnissen,
Fehlinterpretationen und Unterstellungen und verhindert bis heute eine
rationale Diskussion der Vor- und Nachteile.
So wird zum Beispiel gegen die doppelte Staatsangehörigkeit vorgebracht,
sie führe über erweiterten Familiennachzug zu mehr Zuwanderung,
verhindere die Abschiebung "krimineller" Ausländer und ermögliche
die Austragung fremder Konflikte (z.B. im ehemaligen Jugoslawien) auf deutschem
Boden. Doch die befürchteten negativen Folgen ergeben sich sämtlich
– wenn überhaupt – aus der Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit
als solcher, nicht jedoch daraus, ob der Betroffene daneben noch einen,
zwei oder mehrere andere Pässe besitzt. Die entscheidende Frage lautet
daher, unter welchen Voraussetzungen die deutsche Staatsangehörigkeit
zuerkannt werden darf (z.B. Straffreiheit, Verfassungs- und Gesetzestreue).
Weiter hört man, doppelte Staatsangehörigkeit führe zu
doppelter Loyalität – obwohl Loyalität keinerlei juristische
Kategorie ist und nichts mit dem Paß oder der Staatsangehörigkeit
zu tun hat. Die allermeisten Einwanderer stehen auch ohne deutsche Staatsangehörigkeit
dem deutschen Staat wesentlich loyaler gegenüber, als z.B. – um den
Vergleich von Ministerpräsident Stoiber aufzugreifen – die Terroristen
der ehemaligen RAF (mit ausschließlich deutschem Paß). Loyalität
läßt sich nicht gesetzlich verordnen, sondern ist in der Regel
das Ergebnis gelungener Sozialisation und Integration. Im übrigen
kann zwar kein Gemeinwesen ohne ein Mindestmaß an Loyalität
seiner Bürger auf Dauer Bestand haben, einklagbar ist sie jedoch nicht.
Gegner der doppelten Staatsangehörigkeit behaupten auch, sie führe
zur "multikulturellen Gesellschaft" – während umgekehrt viele ausländische
Mitbürger annehmen, bei der Einbürgerung müßten sie
mit ihrem alten Paß gleichsam auch ihre kulturelle Identität
sozusagen an der Garderobe abgeben. Beide Befürchtungen sind falsch.
Zwar ist das Grundgesetz vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten, christlich-abendländischen
Kultur- und Gesellschaftsordnung entstanden, aber diese vorgefunde Ordnung
wird nicht ihrerseits von der Verfassung gewährleistet. Vielmehr hat
jeder, der in Deutschland lebt, ganz gleich ob mit oder ohne deutschem
Paß, ob Einfach- oder Doppelstaatler, innerhalb der bestehenden Gesetze
die Möglichkeit, seine eigene Identät und Kultur nicht nur zu
bewahren, sondern auch zu entwickeln. So wie deutsche Einwanderer in Rußland
oder in den USA über Jahrhunderte hinweg und zum Teil bis heute deutsche
Spache und Kultur bewahrt und gepflegt haben, können dies umgekehrt
auch die in Deutschland dauerhaft lebenden Ausländer, und zwar auch
dann, wenn sie sich einbürgern lassen und ihre alte Staatsangehörigkeit
ablegen. Daß die Bundesrepublik kulturell bunter und vielfältiger
wird, ist direkte Folge der gesellschaftlichen Veränderungen, ausgelöst
durch die massive Einwanderung der letzten Jahrzehnte. Dieser Prozeß
wird auch in Zukunft weitergehen, selbst wenn es keinen einzigen zusätzlichen
Doppelstaatler geben sollte.
Die rechtlichen und administrativen Probleme, die im Zusammenhang mit
doppelter Staatsangehörigkeit oft angeführt werden, sind fast
allesamt konstruiert, da das Internationale Privatrecht mit seinen Kollisionsnormen
schon heute weitgehend konfliktfreie Lösungen erlaubt. Auch Fragen
wie die der doppelten Wehrpflicht sind zum großen Teil bereits gelöst
oder mit geringem Aufwand zu regeln.
Hartnäckig hält sich das Vorurteil von der Privilegierung,
die mit der doppelten Staatsangehörigkeit einhergehe. Doch zum einen
stehen den mit der Staatsangehörigkeit verbundenen Rechten stets auch
Pflichten gegenüber, zum anderen hat der zweite Paß im Alltagsleben
so gut wie keine Relevanz, sieht man einmal davon ab, daß der Inhaber
unter Umständen in zwei Staaten über das Wahlrecht verfügt.
Dem wiederum kann man zwar durchaus kritisch gegenüberstehen – allerdings
wäre auch zu bedenken, inwieweit die vor einiger Zeit erfolgte Verleihung
des Wahlrechts an im Ausland lebende Türken nicht gerade dazu führt,
daß dadurch die demokratischen Parteien in der Türkei gegen
die im Vordringen befindlichen Islamisten gestärkt werden.
Das einzig echte Argument, das m. E. gegen die Zulassung einer generellen
doppelten Staatsbürgerschaft spricht, handelt von den gesellschaftlichen
Konflikten, die dadurch möglicherweise begünstigt werden. Gerade
weil es gegen die doppelte Staatsangehörigkeit in der Bevölkerung
(zwar größtenteils unbegründete aber) weitverbreitete Vorbehalte
und Ängste gibt, muß die Politik sich fragen, ob diese Ängste
tatsächlich (mit noch so teuren) staatlichen Informationskampagnen
innerhalb weniger Monate ausgeräumt werden können, oder ob es
sich nicht vielmehr um einen jahrelangen Prozeß handelt, der durch
plötzliche radikale Veränderungen eher belastet würde. Es
besteht zudem die Gefahr, daß sich bei "deutschen" Arbeitnehmern,
die sich in ihrem Betrieb der Konkurrrenz durch zum Teil besser motivierte
und zuverlässigere "ausländische" Arbeitskollegen gegenübersehen,
das subjektive Befinden einstellt, daß die bislang rechtlich eher
diskriminierten ausländischen Arbeitnehmer im Vergleich zu ihren deutschen
Kollegen nunmehr privilegiert sein könnten. Auf derartige Entwicklungen
und ihre Folgen hat die Politik kaum Einfluß, bedenken muß
sie sie gleichwohl.
Die generelle Zulassung der doppelten Staatsangehörigkeit muß
daher unter dem zuletzt behandelten Gesichtspunkt als problematisch beurteilt
werden – und für das Gelingen der Integration ist sie nicht erforderlich.
Reicht dies als Grund für "Unterschriftenaktionen" und ähnliche
"Kampagneformen", wie sie seit Mitte Januar diskutiert und vorbereitet
werden? Ohne Zweifel muß der gesellschaftliche Diskurs auch über
derartige Fragen möglich sein, doch tragen Aktionen wie die erwähnten
in diesem sensiblen Bereich keineswegs zum Abbau, wohl aber zur Verschärfung
der bestehenden Mißverständnisse und Vorurteile bei. Sie bergen
die Gefahr einer weiteren Polarisierung, einer Veränderung des gesellschaftlichen
Klimas, die dann von der Politik nicht einfach wieder rückgängig
gemacht werden könnte. Selbst wenn dabei das Ziel der Integration
gleichberechtigt mit der Ablehnung der doppelten Staatsangehörigkeit
behandelt wird, werden die allermeisten der hierzulande lebenden Ausländer
derartige Kampagnen als unmittelbar gegen sie und ihre Anwesenheit gerichtet
empfinden. Den Initiatoren solcher Aktionen wird es das Gespräch mit
in Deutschland lebenden Ausländern auf lange Zeit erschweren, wenn
nicht gar unmöglich machen.
Eine Art deutscher Einigung
Es gehört zu den positiven Erfahrungen der deutschen Nachkriegsgeschichte,
daß in fundamentalen und schwierigen Fragen der Innen- und Außenpolitik
ein parteiübergreifender Konsens hergestellt werden konnte – was der
Lösung dieser Probleme sehr zugute kam. So fand man zusammen, als
es um die deutsche Einheit ging, und ebenso konsensual hat man die Europäische
Einigung (mit)betrieben, zuletzt deutlich bei der Einführung des Euro.
Die Bewältigung der 30 Jahre andauernden Einwanderung durch Integration
der rechtmäßig und dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer
in unsere Gesellschaft ist von vergleichbarer Qualität – ein Thema
von entscheidender Bedeutung für die Zukunft und den sozialen Frieden
in unserem Land, aber auch in hohem Maße anfällig für populistische
Stimmungsmache. Deshalb sollte es im nationalen Konsens bewältigt
werden.
Bislang kam ein solcher nicht zustande, er wurde nicht einmal ernsthaft
versucht. Zuletzt hat es die Union während zweier Legislaturperioden
nicht geschafft, zur Neuordnung des Staatsangehörigkeitsrechts einen
Vorschlag zu präsentieren, der parlamentarisch und gesellschaftlich
mehrheitsfähig gewesen wäre. Die neue Bundesregierung, die von
der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bis hin zum Atomausstieg überall
für Runde Tische plädiert und sie auch realisiert, hat in Verkennung
der gesellschaftlichen Realität offenbar angekommen, die Reform des
Staatsangehörigkeitsrechts alleine bewältigen zu können
und sich der Einführung einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit
verschrieben, ohne zuvor das Gespräch mit der Opposition und den relevanten
gesellschaftlichen Gruppen zu suchen.
Sollte das Thema nunmehr zu Wahlkampfzwecken und als Instrument des
innenpolitischen Machtkampfes zwischen Regierung und Opposition gebraucht
werden, wären die Leidtragen nicht nur die hier lebenden Ausländer.
In Frankfurt am Main beträgt der Anteil der Ausländer unter den
Jugendlichen bis 20 Jahre mehr als 45%. Die daraus ohnehin entstehenden
Spannungen dürfen keinesfalls noch weiter verschärft werden.
Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts kann für sich alleine
den Erfolg der Integration nicht gewährleisten, aber sie gibt ein
wichtiges Signal. Und dieses Signal zu setzen, das ist auch ohne die Einführung
einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit möglich – etwa
dadurch, daß man das ius sanguinis (Abstammungsrecht) durch das ius
soli ergänzt und es so den in Deutschland geborenen ausländischen
Jugendlichen ermöglicht, als Deutsche aufzuwachsen, mit allen Rechten
und Pflichten. Das geht rechtlich aber nur, wenn man bis zur Erreichung
der Volljährigkeit das Bestehen doppelter Staatsangehörigkeit
in Kauf nimmt. Zu überlegen ist darüber hinaus, ob nicht gegenüber
der allerersten Einwanderergeneration eine besondere Geste der Dankbarkeit
für die erbrachten Leistungen sinnvoll wäre.
Integration vollzieht sich nicht als einmaliger Akt, sondern als Prozeß, schrittweise und über mehrere Generationen. Es ist legitim, darüber nachzudenken, ob durch die vermehrte Zulassung ausnahmsweiser oder zeitlich befristeter doppelter Staatsangehörigkeit dieser Integrationsprozeß beschleunigt werden kann. Die Verleihung der Staatsangehörigkeit kann durchaus ein Mittel zur Integration sein; deshalb wäre es völlig falsch, ihre Zuerkennung erst nach erfolgter Integration zuzulassen. Auch in den kommenden Jahren wird es weitere Zuwanderung nach Deutschland geben – wenngleich in wesentlich geringerem Umfang als jene der 60er und 70er Jahre. Deren Folgen nun endlich zu bewältigen heißt auch, ein "Übergangsproblem" zu lösen – und dies müßte in einer vernünftigen Reform Niederschlag finden.