Was stimmt mit unserem Wohlstand nicht? Hans A. Pestalozzi Ich bin Vertreter einer Generation, die verantwortlich ist dafür, daß wir heute nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll. Und nun komme ich und will darüber befinden, wie es für die Jugend weitergehen könnte. Es wurde mir erst richtig bewußt, welche Arroganz in dieser Haltung der Politiker liegt, die von den Jugendlichen verlangen, sie sollten doch endlich mal sagen, was sie möchten. Die Politiker wollen ja wieder darüber entscheiden, ob das, was die Jungen wollen, nun vernünftig sei oder nicht. Genau so geht's nicht, denn die Zukunft gehört doch den Jugendlichen. Und da gibt es für unsere Generation nur eine Aufgabe: dafür zu sorgen, daß die Jungen selbst ihre Zukunft gestalten können. Nur das kann unser Ziel sein. Eine zweite Aufgabe für uns müßte darin bestehen, daß wir selbst zu formulieren versuchen, was wir eigentlich möchten. Doch genau das tun wir nicht. Wir sind ja gar nicht mehr fähig unsere Generation, die heutigen Politiker, zu formulieren, wie es weitergehen könnte und worauf es ankäme in unserer Gesellschaft. Ich habe fast Hemmungen, mein Standard-Beispiel mit den Ärzten zu bringen. Ich habe es schon so oft erzählt, im Fernsehen und im Rundfunk, aber es gibt einfach kein besseres Beispiel, um zu illustrieren, daß wir nicht mehr wissen, was wir eigentlich wollen. Vor einem Jahr ging eine Siegesmeldung durch die Schweizer Presse, wir hätten nun so viel Ärzte wie kein anderes Land der Welt. Wir hätten endlich die Bundesrepublik geschlagen. Bisher war die Bundesrepublik das Siegerland in Bezug auf die Anzahl der Ärzte. Und alle diese Ärzte haben ja unwahrscheinlich viel zu tun. Wenn nun die Schweiz und die Bundesrepublik die beiden Länder mit den meisten Ärzten auf der Welt sind, und alle diese Ärzte haben viel zu tun, dann sind wir die kränksten Länder der Welt. Schlicht und einfach. Ich will doch nicht möglichst viele Ärzte haben, sondern ich will gesund sein. Wenn ich gesund bin, brauche ich keine Ärzte. Also kann doch niemals die Zahl der Ärzte für mich Maßstab sein, ob es uns gut geht oder nicht. Ja, aber Ärzte brauche ich für alle Fälle. Denn das Gegenteil dürfte ja auch nicht stimmen. Ich dürfte nie sagen, je weniger Ärzte wir haben, desto besser geht es uns. Diese Logik wäre noch paradoxer. Der Idealfall wäre wohl: viele Ärzte - und alle arbeitslos. Dann wären wir gesund. Aber das geht ja auch nicht in unserer Gesellschaft. Man darf nicht arbeitslos sein. Doch, man darf arbeitslos sein, aber erst, wenn man Gunther Sachs heißt oder einen anderen, entsprechenden Namen trägt. Dann ist Arbeitslosigkeit plötzlich etwas Großartiges. Von dem erwartet kein Mensch, daß er arbeitet. Aber der Normalbürger der ist ausgestoßen, sobald er nicht arbeiten kann, der ist zu nichts nutze, der ist Außenseiter. Ja, müssen wir jetzt krank sein, damit die Ärzte genügend Arbeit haben? Worum geht es denn, was wollen wir eigentlich? Das können wir auf unzählige Bereiche unseres eigenen Lebens übertragen, vor allem auf unsere Wirtschaft. Damit stehn wir schon mitten drin in der Problematik dieser Wirtschaft und unserer ganzen Gesellschaft. Weshalb müssen wir so froh sein, wenn die Einzelhandelsumsätze gestiegen sind? Wenn die Einzelhandelsumsätze gestiegen sind, dann war es ein gutes Jahr. Wenn die Einzelhandelsumsätze stagniert haben oder sogar zurückgegangen sind, dann ist es eine Katastrophe. Ja, was heißt denn das: die Einzelhandelsumsätze sind gestiegen? Das heißt doch, daß die Leute noch immer nicht genug hatten. Die Leute haben das Gefühl, ich muß immer noch mehr haben wollen- genauer: man hat den Leuten beigebracht, ihr müßt immer noch mehr haben wollen, ihr könnt doch nicht einfach so zufrieden sein. Denn, wenn wir zufrieden sind, können die Umsätze nicht mehr steigen, dann stagnieren sie. Ja, müssen wir jetzt unzufrieden sein, damit die Umsätze steigen können?! Oder dürfen wir endlich zufrieden sein? Vor kurzem hieß es, bei uns sei ein Rekordjahr gewesen, weil so viele Autos verkauft wurden wie noch nie zuvor. Ja, und Rekord heißt doch etwas ganz besonders Gutes. Aber: ist es so besonders gut, wenn immer noch mehr solcher Blechkisten die Städte zerstören, die Landschaften ruinieren, Abgase produzieren, Menschen umbringen? Wären wir alle nicht viel, viel zufriedener, wenn viel, viel weniger solcher Blechkisten verkauft würden? Es wird geradezu makaber, wenn die Pharmaindustrie schreibt, es war ein gutes Jahr, die Umsätze sind gestiegen. Ich begreife die Pharmaherren, die sagen: großartig, gestiegen, Umsatzanteil gestiegen, Gewinne gestiegen, aber daß die ganze Presse schreibt, es war ein gutes Jahr, die ganze Presse. Statt daß die Presse schreibt: Alarm, Alarm, was ist mit unserer Gesellschaft los? Noch mehr Leute haben noch mehr Medikamente eingenommen. Ich will doch keine blühende Pharmaindustrie, sondern ich will gesund sein. Dann kann die Pharmaindustrie nicht blühen, schlicht und einfach. Ich will doch keine blühende chemische Industrie, sondern ich will, möglichst naturgerecht leben können. Dann können die Umsätze in der Chemie nicht steigen. Ich will keine blühende Waschmittelindustrie, sondern ich will möglichst wenig Schmutz. Worauf kommt's denn an? Ich will keine blühende Deodorantindustrie, sondern ich will, daß wir uns endlich wieder riechen können. Darauf käme es doch an. Woher kommt diese Mentalität überhaupt, daß wir das Gefühl haben, es muß nur der Wirtschaft gutgehen, dann geht's such uns gut? Für mich ist das ganz eindeutig. Meine Generation stammt ja aus der Krisenzeit der 30er Jahre, aus der Mangelzeit, der Kriegszeit und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Und damals ging es darum, einfach die materielle Existenz sicherzustellen. Damals traf es wahrscheinlich zu, daß, wenn es der Wirtschaft besser geht, auch uns besser geht. Aber heute stimmt genau das Gegenteil: daß, wenn es der Wirtschaft gut geht, das in weiten Bereichen ein Indiz dafür ist, daß es uns schlechter geht. Irgendwann hat sich das mal ins Gegenteil verkehrt. Das haben wir, irgendwann in den letzten 20 Jahren, nicht gemerkt, schlicht und einfach nicht gemerkt. Und sind noch immer diesem Denken verhaftet: wenn's der Wirtschaft gut geht, wenn die Umsätze steigen, dann geht's auch uns gut. Das findet man noch in unzähligen anderen Beziehungen, dieses Denken, das einfach nicht mehr stimmen kann. Nehmen wir die Begriffe dieser Gesellschaft, Begriffe, die für uns Selbstverständlichkeiten sind; nein, die für uns nicht mal Selbstverständlichkeiten, sondern Werte sind, Wertmaßstäbe. Und weil sie Werte sind, wurden sie sogar zur Basis dieser ganzen Gesellschaft. Wenn jemand kommt und versucht, diese Begriffe zur Diskussion zu stellen, dann greift er bereits die Grundlagen unserer Gesellschaft an. Versuchen wir doch mal, für uns persönlich, den Begriff Fortschritt zu definieren. Versuchen wir das mal. Geht ja gar nicht! Wir können Fortschritt heute nicht mehr definieren. Dabei ist es ein so selbstverständlicher Begriff. Und wenn jemand sagt, das ist doch fortschrittlich, das müssen wir doch machen, das ist jetzt der Fortschritt, was sagen wir dann? Ja, ist das Auto ein Fortschritt? Worin besteht denn dieser Fortschritt? Einfach darin, daß wir noch rascher in der Weltgeschichte umherrasen können, ohne uns zu fragen, was in der Bilanz auf der Gegenseite steht? Ist das ein Fortschritt, wenn wir Überschallknälle produzieren, wenn wir die Ozonschicht zerstören, mit dem einzigen Resultat, daß wir noch etwas schneller nach Übersee gelangen und damit unsere eigene biologische Uhr weiter durcheinander bringen? Worin besteht der Fortschritt von modernen Wohnformen? Ist das Fließband ein Fortschritt? Sind Tierfabriken ein Fortschritt? Was ist denn das, der Fortschritt? Oder nehmen wir einen anderen Begriff: Rationalisierung. Für jeden Manager eine Selbstverständlichkeit. Rationalisieren kommt vom lateinischen "ratio" und das heißt "Vernunft". Ja, ist es so vernünftig, wenn wir immer noch mehr Arbeitsplätze wegrationalisieren? Rationalisierung heißt ja nichts anderes als Ersatz menschlicher Arbeitskraft durch Kapital, durch Investitionen, durch Maschinen. Ist es so vernünftig, wenn wir die Arbeitsplätze immer noch sinnentleerter, immer noch eintöniger machen? Oder: moderne Wohnformen, als Nonplusultra der Rationalisierung im Bauwesen, sind die so vernünftig? Ein weiterer Begriff: Effizienz. Das ist auch so eine Fixierung. Wir haben doch eine effiziente Wirtschaft. Wir haben schließlich bewiesen, daß diese Wirtschaft effizient ist. Also geht's nur noch darum, die Mittel und Methoden dieser Wirtschaft, diese Effizienz, auf alle anderen möglichen Lebensbereiche zu übertragen nicht nur auf die öffentliche Verwaltung, sondern auch auf die Schulen und sogar auf die Sozialdienste. Wenn wir diese Effizienz auf all diese Lebensbereiche übertragen haben, dann geht's auch in all diesen Bereichen besser. Ja, ist es so effizient, wenn wir heute in der Landwirtschaft mehr Energie in den Boden hineinstecken müssen als wir rausholen? Ist es so effizient, wenn die Energiewirtschaft mit einem Wirkungsgrad von höchstens 20 Prozent arbeitet - und der Rest in die Luft geht? Ist es so effizient, wenn der Arbeiter heute inklusive Arbeitsweg und beruflicher Ausbildung mehr und länger arbeiten muß als vor Jahrzehnten? Oder, eine ganz kuriose Tatsache: daß aufgrund einer EG-Untersuchung die Hausfrau vor 50 Jahren durchschnittlich noch 50 Stunden im Haushalt gearbeitet hat, und heute dank pflegeleichter Böden und Maschinen 60 Stunden? Das ist dann Effizienz. Oder noch unglaublicher: daß, gesamtwirtschaftlich, 4,8 Prozent der Weltbevölkerung - das sind die Amerikaner - 50 Prozent aller Rohstoffe verbrauchen. Und das ist dann die effizienteste Wirtschaft dieser Welt! Und wir alle haben nur ein Ziel: dieser effizientesten Wirtschaft nachzueifern. Woran bemißt sich denn Effizienz? Effizienz bemißt sich einzig und allein am Kapitaleinsatz. Und wenn das Kapital regiert, war es effizient - und sonst eben nicht. Das ist unser Effizienzbegriff. Als ob es nicht ganz andere Möglichkeiten gäbe, Effizienz auszudrücken, beispielsweise durch Schonung der Ressourcen, oder durch Einsatz menschlicher Intelligenz und menschlicher Arbeitskraft. Es gäbe doch ganz andere Faktoren, um Effizienz zu messen. Oder Fortschritt. Fortschritt hätte doch sofort wieder einen Inhalt, wenn wir wüßten, was wir wollen. Sobald wir eine Zielsetzung haben, ist alles, was uns auf dieses Ziel zuführt, ein Fortschritt. Was uns davon abbringt, ein Rückschritt. Aber genau dazu sind wir offenbar nicht mehr in der Lage: zu formulieren, was wir denn wollen. Und so pervertieren wir in allen denkbaren Bereichen unserer Zivilisation alle möglichen Begriffe; wir haben eine Mobilität, die sich selbst aufhebt. Die Autos im Stoßverkehr. Eine Medizin, die Krankheiten schafft. Eine Hygiene, die die Menschen anfällig macht für Krankheiten. Eine Bodenkultur, die die Böden zerstört, eine Städteplanung, die die Städte ruiniert, eine Freizeitmaschinerie, die Urlaub zum Streß macht, eine Universität, die Spezialisten züchtet, eine Freiheit, die den Menschen isoliert. Und dann haben wir uns einen ganz ungeheuerlichen Trick einfallen lassen, weil wir nicht mehr wissen, was wir wollen: wir haben die Mittel zum Selbstzweck erhoben. Beispiel Mobilität. Wir sind so stolz auf die Mobilität dieser Gesellschaft. Mobilität ist für uns ein Ausdruck dafür, ob eine Gesellschaft fortschrittlich ist, modern ist, entwickelt ist. Je mobiler eine Gesellschaft, desto fortschrittlicher. Und diese Mobilität messen wir an der Zahl der Reisen, die gemacht werden, an der Zahl der Fahrten und der Länge dieser Fahrten. Je mehr Fahrten, desto mobiler; desto besser. Je länger diese Fahrten, desto mobiler, desto fortschrittlicher, desto entwickelter. Überlegen wir uns die Konsequenz. Die Hausfrau, die noch um die Ecke einkaufen gehen kann, die ist immobil, ist nichts nutze in dieser Gesellschaft, trägt nicht bei zum Fortschritt dieser Gesellschaft. Erst wenn sie zehn Kilometer ins Einkaufszentrum fahren muß, trägt sie zur Mobilität bei. Der Arbeiter, der noch im Dorf zur Arbeit gehen kann, der ist nichts wert, der muß hundert Kilometer zum Arbeitsort fahren, dann trägt er bei zur Mobilität dieser Gesellschaft, zum Fortschritt dieser Gesellschaft. Aber ich will doch nur dann mobil sein, will nur dann eine Ortsverschiebung vornehmen, wenn ich ein Ziel erreichen will. Und je weniger ich mich verschieben muß, um dieses Ziel zu erreichen, desto besser. Der Idealfall wäre doch dann gegeben, wenn alle Ziele, die ich erreichen will, alle Ziele, die ich brauche, um zufrieden zu sein, um mein Leben gestalten zu können, bei mir sind, wenn ich mich nicht zu verschieben brauchte. Also ist es doch Wahnsinn, zu sagen, ich muß mehr Autobahnen bauen, ich muß die Leute immer noch mobiler machen. Nein, das Ziel könnte darin bestehen, nun endlich eine Gesellschaft mit Strukturen zu schaffen, die möglichst wenig Transport von mir verlangen. Aber nein, Mobilität ist Maßstab, ist Ziel, ist Selbstzweck. Noch viel ungeheuerlicher ist die Geschichte mit der Arbeit, mit dem Arbeitsbegriff. Wir bringen den Kindern immer noch bei, ihr müßt lernen zu arbeiten, damit ihr einmal leben könnt. Lernen zu arbeiten: das ist Erziehungsziel und Ziel der Schulen. Ja, "Müßiggang ist aller Laster Anfang", "Arbeit kommt vor dem Vergnügen", "Arbeit adelt", so an der Supermarktkasse oder am Fließband, wahnsinnig adlig. Aber es ist doch schon längst umgekehrt, weshalb merken wir das nicht? Es ist schon längst so, daß wir unser Leben so einrichten müssen, daß alle genügend Arbeit haben. Wir müssen ja verschwenden, fortwerfen, immer neu konsumieren, neue Bedürfnisse schaffen, damit alle genügend arbeiten können. Wir dürfen nicht über Autobahnen diskutieren, wir dürfen nicht über Kernkraftwerke diskutieren, weil sonst auch Arbeitsplätze gefährdet sein könnten. Wir dürfen nicht mal über Asbest-Herstellung diskutieren, obwohl man weiß, daß durch die Produktion dieses Werkstoffes das Leben der Arbeiter gefährdet ist. Das Leben des Arbeiters ist also weniger wichtig als der Arbeitsplatz, der erhalten werden muß. Die Mikroprozessoren. An sich eine ganz großartige technologische Erfindung. Ein alter Menschheitstraum könnte in Erfüllung gehen: Roboter könnten einen Teil der Idiotenarbeit übernehmen. Aber statt daß wir nun alle glücklich und zufrieden sind, daß die Roboter die Idiotenarbeit tun, gibt's für alle Politiker und Manager und Chefbeamte und Gewerkschaftsführer nur ein Problem: Jetzt haben wir ja nicht mehr genügend Idiotenarbeit! Was machen wir jetzt? Jetzt müssen wir alles tun, damit wieder genügend Idiotenarbeit geschaffen wird, daß alle wieder so arbeiten können wie früher. Ein Beispiel noch aus der Schweiz: Wir haben heute ein viel höheres Produktionsvolumen als vor Beginn der Rezession 1973, wir stellen also mehr materiellen Wohlstand her als zu Beginn der Rezession. Das ist in der Bundesrepublik genauso. Aber wir stellen diesen höheren Wohlstand mit 400 000 Arbeitsplätzen weniger her. Wir hätten in der Schweiz 14 Prozent Arbeitslose. Aber statt daß wir nun einfach hingegangen wären und gesagt hätten, wir müssen diesen Arbeitskuchen anders verteilen, hat man 300 000 Ausländer nach Hause geschickt, hat 100 000 Frauen zurück in die Küche geschickt, hat alle Angehörigen von Randgruppen ins Ghetto geschickt, damit der Schweizer Mann ja ganz genauso viel arbeiten kann wie vorher. Das ist doch pervers. Es kann doch nicht mein Ziel sein, einfach arbeiten zu können, und so viel arbeiten zu können wie möglich. "Otium" hieß es einmal; Otium als Lebensgestaltung, als Nichtstun, als Muße, das war das Positive, das war das Ziel des Lebens. "Negotium", die Verneinung von Otium, die Verneinung des Lebens, das war dann die Arbeit, die geleistet werden mußte, damit man leben konnte. "Scole" - das griechische Wort für Schule - das war der Ort der Muße. Da lernte man, nichts zu tun, da lernte man einfach, zu sein, da lernte man, zu leben. Ja und heute? Auch heute wäre etwas anderes möglich als das, was uns vorgegeben wird. Denn ich habe in den letzten Jahren meines Managerdaseins kaum mehr erlebt, daß ein junger Mensch gekommen ist und gefragt hat, wieviel verdiene ich bei euch, in diesem internationalen Institut? Der hat ganz andere Überlegungen angestellt, und das ist für mich faszinierend - wie bei meinen drei Kindern mit 16, 18, 19 Jahren -, daß die ganz andere Fragen stellen. Die sagen in erster Linie: Wie will ich denn leben? Das Entscheidende für mich ist, wie ich mein Leben gestalte. Und dieser Lebensgestaltung entsprechen nun bestimmte Bedürfnisse. Bedürfnisse sind immer immaterieller Natur, aber diesen immateriellen Bedürfnissen entspricht ein bestimmter materieller Bedarf. Und aus diesem materiellen Bedarf heraus ergibt sich ein bestimmtes Einkommen. Und dieses Einkommen lautet bei Einem tausend Mark, beim Zweiten zweitausend und beim Dritten vielleicht dreitausend Mark. Und dann lautet die Frage eben nicht mehr, wieviel verdiene ich bei euch, sondern: wie lange muß ich für dieses Einkommen bei euch arbeiten? Und wie läßt sich diese Arbeitszeit so einteilen, daß es euch paßt, aber auch mir paßt? Das geht sehr einfach. Und es ist auch einfach. Alle Unternehmen, die damit experimentierten, haben beste Erfahrungen gemacht. Aber was nicht einfach ist, das sind die Konsequenzen aus diesem einfachen Ansatz. Das Ziel kann nicht mehr darin bestehen, einfach den Arbeitskuchen möglichst groß zu machen und dann möglichst gleichmäßig zu verteilen. Sondern der vorhandene Arbeitskuchen der notwendig ist, für das, was wir haben müssen, wird anders aufgeteilt, und zwar jetzt eben nicht von oben nach unten, nicht von Experten, den Managern, den Gewerkschaftsführern und den Politikern, sondern autonom von unten nach oben, nach den persönlichen Bedürfnissen. Aber noch viel entscheiden- der ist, daß für den Einzelnen Wirtschaft plötzlich eine andere Funktion bekommt. Das Ziel besteht nicht mehr darin, möglichst rasch etwas werden zu müssen, möglichst rasch Karriere machen zu müssen, das Einkommen maximieren zu müssen, damit das maximale Einkommen mir nachher die Lebensgestaltung erlaubt, sondern umgekehrt! Arbeit und Wirtschaft werden wieder Mittel zum Zweck, Mittel, um leben zu können. So könnte man doch Probleme heute angehen. Aber nein, in dem Moment, wo wir solche Mittel zum Selbstzweck erheben, da ist es gar nicht möglich, daß wir noch Probleme lösen. Denn es geht ja letztlich um die Zielsetzung. Und wenn ich mit Politikern zusammen bin, dann stelle ich immer nur eine einzige Frage: Nennt mir ein Problem, ein einziges Problem, das ihr in den letzten zehn Jahren habt lösen können! Ich mache es noch einfacher und sage: Nennt mir ein einziges Problem, das vor zwanzig Jahren bestanden hat und das ihr einer Lösung auch nur einen Schritt habt näherführen können. Noch nie eins gehört. Es ist in der Tat so, daß wir mit jeder Art Politik das Gegenteil dessen erreicht haben, was wir wollten. Alle Probleme haben sich verschärft Wir haben eine Verkehrspolitik betrieben, die dazu geführt hat, daß die Staus auf den Straßen noch nie so groß waren, daß das Defizit der Bahn noch nie so hoch war. Wir haben eine Landwirtschaftspolitik betrieben, die zuerst hunderttausende von Bauern umgebracht und uns in eine völlige Abhängigkeit vom Ausland gebracht hat, die unsinnigerweise Überschüsse produziert, die wir dann mit unserem Geld wieder vernichten müssen, und die gleichzeitig noch die Böden zerstört. Wir haben eine Mittelstandspolitik betrieben, die das Geschäft der Großen gemacht hat. Die Kleinen sind immer mehr verschwunden, wurden immer abhängiger. Die Großen wurden noch größer und mächtiger. Wir haben eine Entwicklungspolitik betrieben, die die armen Länder immer ärmer gemacht hat und die reichen immer reicher. Und eine Friedenspolitik, die uns dem Krieg so nah gebracht hat wie nie zuvor. Das ist die Politik, die heute weiter betrieben werden soll. Weshalb rebellieren wir eigentlich nicht? Weshalb lassen sich Millionen von Menschen das alles gefallen? Weshalb merkt denn der normale Bürger nicht, daß da was nicht stimmen kann? Ich glaube, der Hauptgrund liegt darin, daß wir immer noch auf eine ganz entscheidende Aussage fixiert sind, und bei dieser Aussage erwischt man uns immer wieder. Nämlich die Aussage: nun halt mal, es geht uns allen doch so gut. So gut wie noch nie. Besonders den Jugendlichen sagt man immer: noch nie ging's euch so gut! Ihr könnt euch doch alles leisten! Was wollt ihr denn noch mehr? Klar: Wenn es uns so gut geht wie noch nie, dann gibt es nur eins: dafür zu sorgen, daß es uns auch weiterhin so gut geht. Und wenn die bisherige Politik und die bisherige Wirtschaft dafür gesorgt haben, daß es uns so gut geht wie noch nie, ja dann müssen wir doch so weitermachen. Wir Manager, wir Politiker, wir Wirtschaft, wir System, wir Führung haben dafür gesorgt, daß es euch so gut geht wie noch nie. Also bitte, überlaßt uns, dafür zu sorgen, daß es euch weiterhin so gut geht wie noch nie. Und weil wir ja für euch sorgen müssen, müssen wir doch auch die Verantwortung übernehmen, also müssen wir euch auch sagen können, wie ihr euch zu verhalten habt. Genau das ist der Totalitätsanspruch der heutigen Wirtschaft, die nicht mehr Diener unseres Volkes ist, nicht mehr Diener des Menschen ist, sondern darüber entscheidet, wie wir uns zu verhalten haben, wie weit unsere Freiheitsrechte gehen dürfen, was wir noch sagen dürfen in dieser Gesellschaft. Aber, müssen wir nicht die Gegenfrage stellen: Worin besteht denn eigentlich dieses Es-geht-uns-so-gut-wie-noch-nie? Das ist doch die Kernfrage. Dieses So- gut-wie-noch-nie besteht einzig und allein darin, daß die Gesamtmenge an materiellen Gütern in den westlichen Industrienationen noch nie so groß war. Schluß! Die Gesamtmenge an materiellen Gütern in den westlichen Industrienationen! Von Verteilung spricht kein Mensch, sondern es ist immer wieder die Gesamtmenge. Und es sind immer nur die westlichen Industrienationen. Und das schlimmste ist, daß es immer nur um die materiellen Güter geht. Aber ob es mir wohl ist oder nicht, das ist doch keine Frage der materiellen Güter, die mir zur Verfügung stehen - das ist doch eine reine Gefühlssache. Entweder ist es mir wohl, oder es ist mir nicht wohl. Schluß. Und das muß doch kein Mensch messen können. Ich kann nicht einmal den materiellen Wohlstand messen, das ist immer eine relative Größe: ich bin reicher als der andere, oder ärmer als der andere. Und da sind wir hingegangen und haben einen Maßstab geschaffen: Gesamtgesellschaft, Gesamtwirtschaft, weil man bei uns offenbar messen können muß, ob es uns in diesem Jahr besser geht als im letzten, oder ob es uns gar besser geht als dem Nachbarland, und das ist nun dieses berüchtigte Bruttosozialprodukt. Das Bruttosozialprodukt als alleiniger Maßstab dafür, ob es uns gut geht oder nicht. Und dabei sagt dieses Bruttosozialprodukt wiederum gar nichts anderes aus, als wie viele materielle Güter wir insgesamt in einem Jahr in einem Land geschaffen haben. Man mißt sich also einfach mit sich selber. Das führt dann zu diesen katastrophalen Konsequenzen, die man nicht genug hervorheben kann. Je mehr Verkehrsunfälle wir produzieren, desto besser. Keine Verkehrsunfälle zu produzieren, das erhöht das Bruttosozialprodukt nicht. Schlicht und einfach. Je mehr Waffen wir herstellen, je mehr Gift wir herstellen, je mehr Abfall wir produzieren, desto besser. Kein Mensch fragt danach, was wir herstellen. Je mehr guterhaltene Ware wir fortwerfen, desto besser. Je mehr guterhaltene Häuser wir abbrechen oder durch neue ersetzen, desto besser. Erhalten, das erhöht das Bruttosozialprodukt nicht, oder höchstens um die Renovierungs- kosten des alten Gebäudes; das Abreißen bringt mehr. Wenn ich vor älteren Menschen spreche, bringe ich gewöhnlich noch einen "Schocker". Ich sage dann: Wenn wir am Lebensende noch monatelang in einer Intensivstation dahinvegetieren, anstatt ganz ruhig sterben zu können, dann ist es allen erst so richtig wohl, nur dann steigt das Bruttosozialprodukt. Es klingt nicht nur makaber, es ist makaber. Es ist makaber, daß alle Politiker, alle Leute, die heute an der Macht sind, nur dem einen Ziel nachrennen: das Bruttosozialprodukt zu erhöhen. Kommen wir zurück auf das eingangs erwähnte Beispiel mit den Ärzten. Gesund sein, zufrieden sein, glücklich sein kann das Bruttosozialprodukt nicht erhöhen. Positive Zustände erhöhen das Bruttosozialprodukt nicht. Ich muß krank sein, ich muß unzufrieden sein, ich muß unglücklich sein, damit das Bruttosozialprodukt steigen kann. Was machen wir mit diesen Managern, diesen Politikern, die nur ein Ziel haben: das Bruttosozialprodukt zu erhöhen? Also mindestens vier Prozent mehr pro Jahr? Schon zwei Prozent mehr Bruttosozialprodukt heißt Verdoppelung in 35 Jahren. Doppelt so viele Autos, doppelt so viele Straßen, doppelt so viele Häuser, doppelt so viele Bahnen, doppelt so viele Flugzeuge, doppelt so viel Alkohol, doppelt so viele Koteletts, doppelt so viele Ferienreisen - und, und, und. Jeder vernünftige Mensch merkt doch, was für ein Wahnsinn hinter dieser Konzeption steckt. Aber nein, zwei Prozent reichen nicht, vier Prozent mindestens! Also in 15 Jahren das Doppelte. Und die Unionsparteien sagen noch, vier Prozent, die reichen doch bei weitem nicht, also noch mehr. Man übertrifft sich im Wahnsinn. Und das ist die heutige Politik. Wir müssen also fragen; was ist denn eigentlich das Es-gehteuch-so-gut-wie-noch- nie? Wir müssen einfach solche Gegenfragen stellen. Sobald wir nämlich mit Politikern und Managern so diskutieren, haben die keine Antwort mehr. Ob und was damit erreicht ist, ist eine andere Frage. Aber wir merken endlich, daß wir richtig überlegen - und daß es nicht die anderen sind. Denn die anderen Fragen kommen dann von selbst. Ja, sind wir so viel intelligenter als die anderen, sind wir so viel klüger, arbeiten wir so viel, daß es uns so viel besser geht mit unserem materiellen Wohlstand, oder geht dieser materielle Wohlstand nicht schlicht und einfach zu Lasten von etwas anderem? Zu Lasten von jemand anderem? Zu Lasten der Umwelt, die wir zerstören, zu Lasten der Natur, die wir ausbeuten, zu Lasten der dritten Welt, die wir doch genauso ausbeuten wie in der Kolonialzeit? Und zu Lasten der Nachwelt, der wir erschöpfte Ressourcen hinterlassen, der wir zerstörte Strukturen hinterlassen, der wir Abfall hinterlassen. Müll als Hinterlassenschaft für kommende Generationen. Zu Lasten der Tierwelt, zu Lasten der Arbeitswelt, zu Lasten unserer eigenen Innenwelt. Und das ist doch das Entscheidende: hat's denn gestimmt, die Annahme dieses Systems, daß nur jeder genügend haben müsse, damit es allen gut gehe? Davon sind wir ausgegangen. Identität von materiellem Wohlstand und menschlichem Glück. Und jetzt sind wir glücklich, oder? Ich weiß nicht, ob wir glücklich sind. Das läßt sich wieder nicht messen. Aber etwas kann ich messen in einer Gesellschaft: wie sie sich entwickelt. Denn dafür habe ich Gradmesser, das sind die sogenannten Sozialindikatoren. Und das ist eben eine weitere Frage an die Politiker: Nennt mir einen einzigen Sozialindikator, der sich in der heutigen Gesellschaft positiv entwickelt! Wenn ich feststelle, daß beispielsweise die Kriminalitätsquote ununterbrochen ansteigt, oder wenn ich feststelle, daß die Selbstmordquote ununterbrochen zunimmt, wenn ich konstatiere, daß der Zwang zum Konsum von Alkohol, Drogen, Medikamenten sprunghaft zunimmt, daß die neurotischen Erkrankungen sprunghaft zunehmen, dann ist das keine Entwicklung, die ich will. Mein Gott, ich will doch meinen Kindern mindestens die gleich gute Gesellschaft hinterlassen, wie ich sie habe. Aber wenn ich feststelle, wie sich die Indikatoren entwickeln, weiß ich, daß mir das nicht gelingen wird. Also müssen wir uns doch etwas anderes einfallen lassen. Dann kommen die Politiker und Manager und sagen: ist der wieder negativ, der ist ja gegen diese Gesellschaft. Das ist doch gar nicht wahr. Ich bin nicht gegen ein Kernkraftwerk, sondern für eine sinnvolle Energieversorgung, ich bin für dezentrale politische Strukturen, ich bin für die Schonung der kommenden Generationen, ich bin für die Unabhängigkeit von fremden Mächten, die ich nicht beeinflussen kann. Ja, dann heißt es wieder, der ist gegen die Autobahn! Nein, ich bin doch nicht gegen die Autobahn, sondern für die Erhaltung der Natur, in der betreffenden Gegend. Ich bin für die Erhaltung der Struktur in der betreffenden Gegend. Und ich bin für eine sinnvolle Verkehrslösung, die nicht immer noch zusätzlichen Verkehr induziert. Genauso mit der Gesellschaft. Ich bin doch nicht gegen diese Gesellschaft. Ich bin dagegen, daß die Entwicklungen weiterhin so ablaufen wie bisher. Und ich bin der vollen Überzeugung, daß es uns gelingen wird, noch etwas anderes zu entwickeln, daß wir noch die Chance haben, einen anderen Weg einzuschlagen. Das ist doch eine grundlegend positive Einstellung der heutigen Gesellschaft gegenüber. Die negativen Leute, das sind diejenigen, die genauso weitermachen wie bisher. Das sind die Systemveränderer, das sind die, die uns immer weiter von dem wegführen, was wir eigentlich möchten. Ja, und dann kommen die Politiker und sagen, dann sag' doch endlich mal, was du willst! Ja, ich weiß schon, was ich will. Ich will mich als Teil dieser Gesellschaft, und ich fühle mich durchaus auf dem Boden dieser Gesellschaft, denn diese Gesellschaft hat an sich ein großartiges soziales Bekenntnis. Wir haben beispielsweise das Bekenntnis zur Demokratie, das Bekenntnis zum Christentum, wenigstens im Grundgesetz und im Namen einiger Parteien. Man kann auch sagen: Humanität oder Gerechtigkeit. Ich habe mal mit Lehrern etwas Interessantes gemacht; ich habe eine Liste jener Eigenschaften anfertigen lassen, die wir haben sollten, wenn es uns ernst wäre mit diesem Bekenntnis. Und dann haben wir die Gegenbegriffe aufgestellt. Ich glaube, wir erschrecken genauso wie damals, wenn wir plötzlich feststellen, daß das, was wir möchten aufgrund des Bekenntnisses, in diametralem Gegensatz zu dem steht, was wir produzieren. Wir möchten Gemeinschaft aufgrund des Bekenntnisses. Was schaffen wir? Vereinsamung, Isolation. Es gab noch nie so viele einsame Leute wie heute. Ich möchte Solidarität! Aber das geht nicht aufgrund des Konkurrenzprinzips. Ich möchte für den anderen da sein; aber nein, ich muß ja nach dem Eigennutz leben, sonst funktioniert's ja nicht. Ich möchte zufrieden sein, genügsam sein. Nein, ich muß immer noch mehr haben wollen. Vom Bekenntnis her möchten wir den autonomen Menschen, den Menschen, der fähig ist, selber zu urteilen, selbst zu entscheiden, selbst zu handeln. Die Wirtschaft braucht den gehorsamen Arbeitnehmer und den leicht manipulierbaren Konsumenten. Genau das ist die Hauptauseinandersetzung, in der wir heute stehen. Müssen wir uns denn immer die angeblichen "Realitäten" von der Wirtschaft vorgeben lassen? Und müssen wir unser Bekenntnis, unser gesellschaftliches Leitbild, ständig diesen angeblichen Realitäten anpassen? Können wir es denn nicht einmal umgekehrt machen? Weshalb sagen wir nicht, wie müßte denn die Wirtschaft aussehen, wie müßte denn die Gesellschaft aussehen, wenn es uns ernst wäre mit diesem Bekenntnis? Da kommen natürlich wieder die Manager und sagen: der kneift. Der sagt ja wieder nicht: wie! Ich verstehe die Frage. Die Manager wollen wissen, wie die Unternehmungsführung der Zukunft auszusehen hat, der Porschevorstand fragt, ob das Langfristauto die Lösung des Umweltproblems ist, die Lehrer wollen wissen, ob die Gesamtschule ein neuer Ansatz sei, um wieder die ganze Problematik pädagogisch zu lösen. Kürzlich hatte ich vor hundert Pfarrherren zu sprechen, die wollten wissen, wie die Kirche auszusehen hat. Ich begreife diese Haltung, daß man von jemandem wissen will, wie es weitergehen soll. Aber spüren wir nicht, wie gefährlich diese Situation ist? Wir stehen in einer echten Krise, Krise als positiver Herausforderung, uns was anderes einfallen zu lassen. Wir befinden uns in einer extrem schwierigen Situation, zwischen der industriellen Zeit, in der es um die materielle Existenzsicherung des Menschen ging, und der nachindustriellen Zeit, in der es endlich um etwas mehr gehen könnte, und in solchen Krisensituationen, in solchen Schwellensituationen wartet man wieder auf einen, der sagt: Ich habe die Lösung, mir nach, marsch! Und diese Situation, diese Gefahr ist so groß, daß man wieder auf einen Propheten, einen Guru, einen Führer wartet. Aber genau das darf nicht mehr geschehen. Ja, wer denn sonst, wer soll's uns dann noch sagen? Die Politiker? Nein, bestimmt nicht. Die Politiker kommen und sagen, wir haben ja die Demokratie. Die Demokratie funktioniert doch bei uns. Ich stelle nur die Frage: In welchen Lebensbereichen gibt es denn überhaupt Demokratie? In welchen Lebensbereichen haben wir wenigstens ein demokratisches Bekenntnis? Haben wir Demokratie in der Wissenschaft? Demokratie in der Kultur? Demokratie im Sport? Demokratie in den Kirchen? Demokratie in der Familie? Demokratie in der Wirtschaft? Demokratie beim Bund? Ja, mein Gott, wo haben wir denn wenigstens das demokratische Bekenntnis? Unsere Demokratie beschränkt sich auf einen kleinen Teil der staatlichen Entscheidungsfindung. Das ist dann der einzige Lebensbereich, wo angeblich Demokratie stattfindet. Und unser Beitrag zu dieser Demokratie besteht einzig und allein darin, daß wir alle vier Jahre zwischen verschiedenen Damen und Herren wählen dürfen, und wenn ich dann nur noch zwischen Pest und Cholera wählen kann, dann bleibe ich lieber gesund. Und dann geschieht etwas ganz Komisches, Eigenartiges. Ausgerechnet jene Menschen und Gruppen, die versuchen, ernstzumachen mit der Demokratie, Demokratie zu realisieren, in der Schule zu probieren, in den Kirchen oder gar in der Wirtschaft, die werden von denjenigen, die heute an der Macht sind, als Feinde der Demokratie bezeichnet. Also perverser geht's nicht mehr. Wer soll's denn sonst machen? Der Führer darf's nicht, die Politiker können's nicht. Ja, da kommt jetzt noch eine andere Gruppe, die für sich in Anspruch nimmt, die Probleme lösen zu können - und das ist die Wirtschaft. Die Wirtschaft mit dem Anspruch, wir haben noch alle Probleme lösen können bis jetzt. Also bitte mischt euch nicht ein, wir lösen auch die Probleme der Zukunft. Das ist doch heute eine Grundhaltung in der westlichen Welt. Wir haben einen Papst dieser Auffassung, das ist Professor Milton Friedman in Chicago, und wir haben Anhänger über Reagan und Frau Thatcher bis zu Graf Lambsdorff, die von der Konzeption ausgehen: mischt euch nicht ein, die Wirtschaft löst die Probleme schon selbst. Ihr müßt die Wirtschaft nur wieder freigeben. Natürlich hat diese Wirtschaft Großartiges erreicht. Und die Mechanismen der Marktwirtschaft und deren Abläufe haben sich als sensationell flexibel erwiesen, solange es um den materiellen Wohlstand ging. Aber diese Marktwirtschaft - oder dieser Kapitalismus - geht von zwei verschiedenen Voraussetzungen aus. Erstens, wir handeln nach rein wirtschaftlichen Überlegungen. Während meines Wirtschaftsstudiums hat es schon geheißen, der homo oeconomicus sei das Idealbild dieses Menschen in der Gesellschaft. Zweitens, was ich schon erwähnt habe: jeder handelt nach seinem Eigennutz. Und die Summierung dieser Eigennutze führt dann zum optimalen Gesamtnutzen. Aber die heutigen Probleme verlangen ein gegenteiliges Verhalten. Sie verlangen, daß nicht mehr wirtschaftliche Überlegungen für unsere Maßnahmen und unsere Politik entscheidend sein dürfen, sondern daß nicht wirtschaftliche Überlegungen Vorrang haben müssen. Sie verlangen Rücksicht, schlicht und einfach Rücksicht - Rücksicht auf die Umwelt, auf die Tierwelt, auf die Nachwelt, auf die Dritte Welt, auf unsere Innenwelt, auf die Arbeitswelt. Und Rücksicht ist das Gegenteil des Eigennutzes. Und mit diesen ganz einfachen Überlegungen stellen wir fest, daß die Wirtschaft aus ihren Mechanismen heraus nicht in der Lage sein kann, diese Probleme zu lösen, weil diese Mechanismen, basierend auf dem Eigennutz, zu den Problemen geführt haben. Wer kommt sonst noch in Frage, um was zu verändern? Das können nur wir selbst sein. Es gibt doch niemand anderen mehr als uns selbst. Da kommt natürlich wieder die Frage, sag' uns doch wie? Ich sage nicht wie. Ich kann nur sagen: wir müssen es probieren. Wir müssen erproben, wie es anders sein könnte. Wir müssen gemeinsam - als Gesellschaft, als Gemeinschaft, als Wirtschaft, als Politik - versuchen, wie es anders sein könnte. Und das ist doch das Großartige, daß das ja heute geschieht. Denn alles, was in der sogenanten Alternativbewegung geschieht, das sind ja nichts anderes als hunderte und tausende von kleinen Ansätzen, wie es anders sein könnte. Was die Basisbewegungen versuchen, was die Bürgerinitiativen versuchen, das sind genau diese Ansätze: zu erproben, wie Gesellschaft, wie Wirtschaft, wie Demokratie anders sein könnte. Nur: da geschieht wieder etwas Bezeichnendes. Statt daß nun alle zufrieden und glücklich wären, daß so viele Menschen versuchen, etwas zu verändern und herauszufinden, wie es anders sein könnte, werden die verteufelt. Die "gefährden" unsere Gesellschaft und unsere sogenannte freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung. Ja, weshalb denn? Vielleicht, weil alle, die neue Wege gehen, Strukturen - und damit Machtverhältnisse verändern? In der Tat: geht es nicht genau darum? Geht es nicht um die Macht in dieser Gesellschaft? Damit sind wir bei der entscheidenden Frage angelangt: wie verändern wir die heutigen Machtstrukturen? Wie treten wir an gegen jene, die heute die Macht repräsentieren und mit allen Mitteln verhindern wollen, daß sich was verändert? Geht's mit oder geht's auch ohne Gewalt?