DER MYTHOS DER PRODUKTIVITAET Technologische Entwicklung, Rationalisierung und Arbeitslosigkeit Es gibt eine naive und dennoch vernuempftige Auffassung ueber die Produktivitaet: wenn sie gesteigert wird, so denkt der gesunde Menschen- verstand, dann muesste sich eigentlich das menschliche Leben erleichtern. Hoehere Produktivitaet erlaubt es, mehr Gueter mit weniger Arbeit herzustel- len. Ist das nicht wunderbar ? In unserer Zeit sieht es jedoch so aus, als erzeuge die Steigerung der Produktivitaet zusammen mit einer anschwellen- den Masse von Guetern auch eine Lawine von Arbeitslosigkeit und Elend. Seit dem 70er Jahre haben sich die Soziologen daran gewoehnt, von einer technologischen oder "strukturellen" Massenarbeitslosigkeit zu sprechen. Das bedeutet, dass die Arbeitslosigkeit sich unabhaengigkeit von der kon- junkturellen Bewegung der Wirtschaft entwickelt und sogar im Boom an- steigt. In den 80er un 90er Jahren ist in fast allen Laendern der Sockel dieser dieser strukturellen Arbeitslosigkeit von Zyklus zu Zyklus immer groesser geworden; nach Angaben der internationalen Arbeitsorganisation in Genf waren 1995 bereits 30 Prozent der erwerbsstaetigen Bevoelkerung im globalen Massstab ohne einen festen Arbeitsplatz. Diese harte Tatsache ist nicht nur unvereinbar mit dem gesunden Menschen- verstand, sie hat auch eine merkwuerdige Reaktion der Oekonomen hervorgeruf- en. Die Wirtschaftswissenschaftler tun so, als lasse das irrationale Phaeno- men der Massenarbeitslosigkeit ueberhaupt nicht aus den Gesetzen der Oekono- mie erklaeren; es soll vielmehr ausseroekonomische Ursachen haben, vor al- lem eine falsche Wirtschaftspolitik der Regierungen. Gleichzeitig behaupten die Oekonomen, dass durch die Steigerung der Produktivitaet die Zahl der Ar- beitsplaetze nicht vermindert, sondern vermehrt werde. Dies habe die Ge- schichte der Modernisierung bewiesen. Was fuer den unbefangenen Beobachter wie die Ursache der Krankheit aussieht, soll also das Rezept fuer die Heil- ung sein. Die Oekonomen operieren mit einer Gleichung, die nicht aufzu- gehen scheint. Wo steckt der Fehler ? Ein Axiom der Oekonomischen Theorie besagt, das Ziel der Produktion sei es, den Bedarf der Bevoelkerung an Guetern zu decken. Das ist eigentlich eine Banalitaet. Nun weiss aber jeder, dass es das Ziel der modernen Produktion ist, einen betriebswirtschaftlichen Gewinn zu erzeugen. Der Verkauf der produzierten Gueter soll mehr Geld einbringen, als ihre Produktion gekos- tet hat. Was haben diese beiden Ziele miteinander zu tun ? Die Oekonomen sagen, das zweite Ziel sei nur ein Mittel, und zwar das Beste, um das erste zu erreichen. Dennoch sind beide Ziele offenbar nicht identisch; das erste Ziel ist ein gesammtwirtschaftliches und das zweite ein betriebswirtschaft- liches. Daraus ergeben sich Widersprueche, die das moderne System von An- fang an instabil gemacht haben. Der so scheinbar naheliegende Gedanke, dass die Steigerung der Pro- duktivitaet das Leben erleichtern muesse, rechnet nicht mit der spe- ziellen betriebswirtschaftlichen Rationalitaet. Es kommt naemlich da- rauf an, wofuer die erhoehte Produktivkraft eingesetzt wird. Produzier- en die Menschen fuer ihren eigenen Bedarf, dann werden sie verbesserte Mittel und Methoden schlicht dafuer bennutzten weniger zu arbeiten und die gewonnene Zeit auf angenehme Weise zu verbringen. Ein Produzent von Waren fuer den Markt koennte jedoch auf die Idee kommen, genausoviel zu arbeiten wie bisher und die zusaetzliche Produktivitaet fuer die Her- stellung einer groesseren Menge von Waren zu verwenden, um mehr Geld zu verdienen statt mehr Musse zu geniessen. Ein betriebswirtschaft- licher Manager aber muss sogar auf diese Idee kommen, weil er gar nichts davon haette, dass seine Lohnarbeiter mehr freie Zeit ge- winnen. Er wird also die zusaetzliche Produktivitaet als Vorteil in der Konkurrenz und daher fuer die Senkung der Betriebskosten nutzen statt fuer die Bequemlichkeit der Produzenten. Deswegen ist in der modernen oekonomischen Geschichte die Arbeitszeit immer viel weniger gesunken, als die Produktivitaet gestiegen ist. Noch heute arbeiten die meisten Lohnarbeiter mehr und laenger als die Bauern des Mittelalters. Die Senkunkung der Kosten bedeutet also nicht, dass die Arbeiter bei gleichbleibender Produktion weniger arbeiten, sondern dass weniger Arbeiter mehr Produkte herstellen. Die erhoehte Produk- tivitaet verteilt ihre Fruechte extrem ungleich: die "ueberflues- sigen" Arbeiter werden arbeitslos, waehrend sich die Gewinne der Unternehmen erhoehen. Wenn das alle Betriebe so machen, droht aber gesammtwirtschaftlich ein Effekt, mit dem das bornierte be- triebswirtschaftliche Interesse nicht rechnet: Durch steigende Arbeitslosigkeit sinkt die gesellschaftliche Kaufkraft. Wer soll dann die wachsende Masse der Produkte noch kaufen ? Schon die Zuenfte der mittelalterlichen Handwerker hatten eine Ahnung von dieser Gefahr. Fuer sie war es eine Suende und ein Verbrechen, den Kollegen durch eine Steigerung der Produktivi- taet Konkurrenz zu machen und sie wohlmoeglich in den Ruin zu treiben. Deshalb waren die Produktionsmethoden streng festge- legt und niemand durfte sie ohne Zustimmung der Zunft ver- aendern. Es war weniger technische Unfaehigkeit als vielmehr diese statische soziale Orgnisation des Handwerks, die eine tech- nologische Entwicklung verhinderte. Die Handwerker produzierten nicht fuer einen Markt im heutigen Sinne, sondern fuer einen fixierten, regional beschraenkten Markt ohne Konkurrenz. Diese Ordnung der Produktion dauerte laenger, als man gewoehnlich an- nimmt. In grossen Teilen Deutschlands war der Einsatz von Maschi- nen noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts verboten. Bekanntlich fiel dieses Verbot zuerst in England. Damit wurde der Weg frei fuer technische Erfindungen wie den mechanischen Webstuhl und die Dampfmaschine, die zur Industiealisierung fuehrten. Und promt trat die befuerchtete soziale Katastrophe ein: in ganz Europa herrrschte um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die erste techno- logische Massenarbeitslosigkeit. Freilich betraf diese Katastrophe nur einen bestimmten Sektor, maemlich die Textilproduktion. Deshalb waren es ueberall die Spinner und Weber, die sich in verzweifelten Aufstaenden erhoben und versuchten, die neuen Maschinen zu zerstoeren, um ihre Arbeitsplaetze und die soziale Organisation ihrer handwerklichen Lebensweise zu retten. Das ist alles Vergangeheit sagen die Oekonomen: Hat die weitere Entwick- lung nicht bewiesen, dass die Befuerchtungen grundlos waren ? Tatsaech- lich ging trotz der weiteren Ausdehnung der neuen industriellen Produk- tivkraefte die urspruengliche technologische Massenarbeitslosigkeit rasch zurueck. Was war der Grund dafuer ? Durch die gegenseitige Kon- kurrenz gezwungen, mussten die Industriellen einen Teil des Produk- tivitaetsgewinns an die Konsumenten weitergeben. Die Maschinen machten also die Produkte fuer den Kaeufer wesendlich billiger. Viele Menschen, die frueher lange Jahre ihre alten Kleider abtragen mussten, konnten sich ploetzlich mehrmals im Jahr neue Kleider leisten. Der Markt erweiterte sich auf diese Weise sprunghaft. Zwar wurde fuer die Produktion einer bestimmt- en Menge Textilien weniger Arbeitskraft als bisher benoetigt, aber die Nachfrage nach den billigen Stoffen und Kleidern stieg so stark an, dass auf laengere Sicht nicht weniger, sondern mehr Arbeiter fuer die Textil- produktion gebraucht wurden. Damit ist das Problem freilich nicht grundsaetzlich geloest. Denn irgend- wann muss jeder Markt die Saettigungsgrenze ereichen und kann keine neuen Kaeuferschichten mehr erschliessen. Nur in einer bestimmten Phase der Ent- wicklung fuert die erhoehte Produktivitaet dazu, dass trotz des geringer- en Arbeitsaufwands pro Produkt insgesammt mehr Arbeitsplaetze entstehen: dann naemlich, wenn durch die verbesserten Methoden das urspruenglich re- lativ teure Produkt verbilligt wird und in den grossen Massenkonsum ueber- gehen kann. Ist dieses Stadium noch nicht erreicht, dann stuerzt die ge- steigerte Produktivitaet die bisherige Produktionsweise in die Krise, wie das Beispiel der Textilhandwerker im 18. und dem fruehen 19. Jahrhun- dert zeigt. Am anderen Ende der Entwicklung droht ebenfalls wieder die Krise (nun auf dem Boden der industriellen Produktion selbst), wenn das expansive Stadium ueberschritten wird und die zusaetzlichen Maerkte ge- saettigt sind. Aber dieselbe Expansion kann ja wieder in anderen Branchen durchgespielt werden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde ein Sektor des alten Handwerks nach dem anderen industrialisiert. Immer mehr Produkte verbilligten sich und liessen die Maerkte geradezu explodieren. Dieser Prozess beschleunigte sich derart, dass die ueberfluessig werdenden Handwerker meistens sofort Arbeit in der Industrie fanden und die grosse soziale Krise der alten Tex- tilproduzenten sich nicht wiederholte. Nicht nur alltaegliche Gegenstaende konnten nun von den aermeren Schichten im groesseren Umfang gekauft werden; auch Luxusprodukte, die frueher den "oberen zehntausend" vorbehalten waren, gingen zunehmend in den Massenkonsum ein. Sogar Karl Marx nannte diese all- gemeine Verbilligung der industriell hergestellten Waren eine "zivilisato- rische Leistung" des Kapitalismus. Krisen, wenn es sie ueberhaupt noch geben sollte, schienen auf diese Wei- se immer nur schmerzhafte Uebergaenge zu neuen der Prosperitaet zu sein. Was geschiet aber, wenn ALLE Zweige der Produktion industrialisiert sind und ALLE die Saettigungsgrenze in der Expansion ihrer Maerkte erreicht ha- ben ? Die oekonomische Entwicklung schien auch diese Befuerchtung zu wi- derlegen. Denn die Industrie saugte nicht nur die alten handwerklichen Produktionszweige auf, sondern sie brachte auch selbst neue Produktionszweige hervor, schuf nie dagewesene Produkte und die dazugehoerigen Beduerfnisse. Der Prozess von Steigerung der Produktivitaet, Expansion, Saettigung der Maerkte, Kreation neuer Beduerfnisse und neuer Expansion schien also nie- mals an eine absolute Grenze zu stossen. Oekonomen wie Joseph Schumpeter und Nikolai Kondratieff machten aus dies- em Gedanken die Theorie der sogenannten "langen Wellen" in der zyklischen Entwicklung der modernen Oekonomie. Dieser Theorie zufolge ereicht zwar immer wieder eine bestimmte Kombination von Industrien ihre historische Saettigungsgrenze, wird alt und beginnt nach einer Phase der stuermischen Entwicklung zu schrumpfen. Aber innovative Unternehmer bringen als "schoepferische Zerstoerer"(Schumpeter) neue Produkte, Methoden und Industrien hervor, die das Kapital aus den alten stagnierenden Indus- trien befreien und ihm eine Wiedergeburt in einem neuen technologischen Koerper bescheren. Das Pardebeispiel fuer diese Geburt eines neuen grossen Zyklus ist die Automobilindustrie. Schon 1886 hatte der deutsche Ingenieur Carl Benz das erste Auto gebaut, aber bis zum 1. Weltkrieg war dieser "Kraftwagen" ein extrem teures Luxusprodukt fuer einige reiche Playboys, ungefaehr wie heute ein Privatflugzeug. Wie aus dem Lehrbuch der Theorie von Schumpeter erschien nun als innovativer Unternehmer Henry Ford. Seine Kreation war nicht das Auto selber, das er ja bereits vorfand, sondern eine neue Metho- de der Produktion. Im 19 Jahrhundert war die Produktivitaet vor allem darin gestiegen, dass handwerkliche Produktionszweige durch den Einsatz von Ma- schinen industrialisiert wurden. Der Organisation innerhalb der Industrie selber schenkte man noch keine grosse Beachtung: Erst nach 1900 entwickelte der US-Ingenieur Frederik Taylor ein System der "wissenschaftlichen Betriebs- fuehrung" um die einzelnen Arbeitsvorgaenge zu zergliedern und die Leistung zu erhoehen. Hernry Ford entdeckte mit Hilfe dieses Systems neue Reserven der Produktivitaet in der Organisation des Produktionsprozesses. Er stellte z. B. fest, dass ein Arbeiter der Karrosserieteile zusammenschraubte, im Durchschnitt viel Zeit verlor, weil er sich immer wieder neue Schrauben holen musste. Also liess er die Schrauben in ausreichender Zahl direkt an den Ar- beitsplatz bringen. Der Arbeitsprozess wurde "fluessig" gemacht und bald das Fliessband eingefuehrt; eine Methode die Ford aus den Schlachthoefen von Chicago uebernahm. Die Resultate waren frapierend. Lag die Produktionskapazitaet einer durch- einer durchnittlichen Automobilfabrik bis zum 1. Weltkrieg bei ca. 10.000 Autos pro Jahr, so stellte Ford in seiner neuen Fabrik Highland Park in Detroit im Geschaeftsjahr 1914 die phantastische Menge von 248.000 Autos seines beruehmten "Modell T" her. Die neuen Methoden waren eine Zweite in- dustielle Revolution. Zwar kam diese "fordistische" Revolution zu spaet um die Weltwirtschaftkrise (1929-33) verhindern zu koennen, die durch die Folgekosten des 1. Weltkrieges und den Niedergang des Welthandels ausge- loest wurde. Aber nach 1945 kam die "lange Welle "der industriellen Mas- senproduktion von Automobilen, Haushaltselektonik usw. Ganz nach dem al- ten Muster nur in viel groesseren Dimensionen, schuf die Steigerung der Produktivitaet riesige Massen neuer Arbeitsplaetze, weil die Ausdehnung der Maerkte fuer Autos, Kuehlschraenke, Fernseher usw. absolut mehr Ar- beit notwendig machte, als durch die "fortdistischen" Methoden relativ pro Produkt eingespart wurde. Schon in den 70er Jahren erreichten die fordistischen Industrien ihre historische Saettigungsgrenze. Seitdem erleben wir die dritte industriel- le Revolution der Mikroelektronik. Sofort erinnerte man sich hoffnungs- voll an Schumpeter. Tatsaechlich durchliefen die neuen Produkte einen aehnlichen Prozess wie vorher Autos und Kuehlschraenke: der Computer verwandelte sich rasch aus einem teuren Geraet fuer grosse Unternehmen in ein Produkt des Massenkonsums. Aber diesmal blieb der Boom bei den Arbeitsplaetzen aus. Denn zum erstenmal in der Geschichte der Moderni- sierung wird durch eine neue Technologie absolut mehr Arbeit eingespart als durch die Ausdehnung der Maerkte fuer die neuen Produkte zusaetzlich [an Arbeit] benoetigt wird. In der dritten industriellen Revolution ist die Kapazitaet der Rationalisierung groesser als die Kapazitaet der Ex- pansion. Der fruehere Effekt einer Arbeit schaffenden expansiven Phase blieb aus. Die technologische Massenarbeitslosigkeit aus der Fruege- schichte der Industrialisierung kehrt zurueck, aber nicht mehr auf ein- en Produktionszweig beschraenkt, sondern flaechendeckend in allen In- dustrien und auf dem gesamten Planeten. Damit fuehrt sich das betriebswirtschaftliche Interesse selber ad ab- surdum. Es waehre Zeit, nach 200 Jahren Modernisierung die Steigerung der Produktivitaet dafuer zu nutzen, dass alle weniger arbeiten und gut leben. Aber dafuer ist das System der Marktwirtschaft nicht ge- macht. Es kann die zusaetzliche Produktivitaet immer nur in zusaetz- liche Produktion einerseits und in Arbeitslosigkeit andererseits ver- wandeln. Die Oekonomen wollen nicht begreifen, dass die dritte indus- trielle Revolution eine neue Qualitaet hat, in der die Theorie von Schumpeter nicht mehr gueltig ist. So warten sie noch immer vergeb- lich auf die "lange Welle" der Mikroelektronik. Sie warten auf Gordot. Autor: Robert Kurz