Heribert Prantl – Kap.3 Doppelte Staatsbürgerschaft:
(aus seinem Buch. Deutschland, leicht entflammbar – Carl Hanser Verlag 1994)

Wer ist Deutscher?

In den Diskussionen über die Integration von Ausländern, über erleichterte Einbürgerung und doppelte Staatsbürgerschaft gehört seit i99z ein Argument zum Repertoire: Das hätte die Opfer der Brandanschläge und Überfälle auf Ausländer auch nicht gerettet. Das ist richtig. Ein deutscher Paß verbrennt in Solingen und Mölln, an diesen Stätten des Mordens und der Schande, genau so wie ein türkischer; er ist keine Erste Hilfe gegen ausländerhassende Mordbrenner. Der Pöbel kontrolliert bekanntermaßen nicht erst die Personaldokumente, bevor er zuschlägt. Ihm ist es egal, ob der Türke Türke, ob er Kurde, ob er Deutscher oder ob er deutscher Türke ist. Der Ausländerhasser schlägt zu, weil der andere anders aussieht, weil er andere Gebräuche und Traditionen hat. Daran ändert ein Paß nichts, daran ändern zwei Pässe nichts. Staatsbürgerschaften machen das Sichtbare nicht unsichtbar. Der Akt der Einbürgerung schenkt nicht über Nacht Sicherheit vor Uerbrechern. Er gibt aber dem Eingebürgerten Sicherheit darüber, daß er nunmehr nicht mehr nur geduldet ist, sondern, daß er dazugehört - daß seine Stimme zählt wie die jedes anderen Bürgers auch. Eine doppelte Staatsbürgschaft kann zwar nicht den Verbrechern die Verbrechen erschweren. Sie kann aber den ausländischen Bürgern in Deutschland das Leben leichter machen Darum geht es: all die ausländischen Bürger auch als Staatsbürger, zu akzeptieren, die längst und auf Dauer ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden haben.

Soll er doch Deutscher werden, der Türke, sagen die CSU und der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein, aber er möge, so fordern sie, vorher seine türkische Staatsbürgerschaft aufgeben. Die Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft greifen zur Begründung ins Juristendeutsch und sprechen von einem „Verbot der Mehrstaatigkeit“. Und dieses Verbot halten sie der türkischen Minderheit entgegen wie ein Kruzifix dem Leibhaftigen. Dabei ist dieses angebliche Verbot der Mehrstaatigkeit längst national und international zerbröselt: Kinder von deutsch-ausländischen Eltern sind in der Regel Doppelstaater (immerhin wurden in den vergangenen zehn Jahren mehr als 300.000 deutsch-ausländische Ehen in der Bundesrepublik geschlossen). Im selben Zeitraum sind eineinhalb Millionen Aussiedler in Deutschland aufgenommen worden: Sie sind Deutsche, und zugleich besteht ihre ausländische Staatsangehörigkeit in den meisten Fällen fort. Es gibt also kein Prinzip zu verteidigen. Wer den Türken in Deutschland die doppelte Staatsangehörigkeit verweigert, der tut es wahrscheinlich deswegen, weil er ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft überhaupt vorenthalten will.

Das ist töricht und gefährlich zugleich: Die türkische Minderheit darf nicht zu einem Staat im Staate werden. Die doppelte Staatsbürgerschaft gehört zu den Möglichkeiten, dies zu verhindern. Wenn sie den Türken die Eingliederung ins Staatsvolk leichter macht, warum soll man sie ihnen dann nicht geben? Wer mag, der kann die Anerkennung der doppelten Staaatsbürgerschaft als ein Sonderangebot für die ehemaligen Gastarbeiter und ihre Familien betrachten. Sie haben dieses Sonderangebot verdient, die Türken zumal. Über ihnen wurden die verschiedensten politischen Konzepte ausgekippt: Einmal gab es Integrationsprogramme, ein andermal Rückkehrprogramme; einmal wurden sie aufgefordert, sich deutsch zu fühlen, ein andermal wurden sie hinauskomplimentiert. Dieses Wechselbad hat Unsicherheit erzeugt - und die Scheu, die türkischen Wurzeln durch Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit vermeintlich abzuschneiden, ist nicht unverständlich. Jahrzehntelang hat der deutsche Staat seinen Bürgern ausländischer Herkunft den Weg zur Einbürgerung mit Schwierigkeiten gepflastert. Wäre die Doppelstaatsbürgerschaft nicht auch ein Akt der Wiedergutmachung nach jahrzehntelanger bürokratischer Härte?

Wabernder Nationalismus ist es, der die Angelegenheit so schwierig macht; es ist der Geist der vordemokratischen Zeit. Die Debatte über über die Vor- und Nachteile der Doppelstaatsbürgerschaft, über deutsches Blut und deutsche Art – sie ringt mit den Geistern von gestern. Sie kämpft mit einem Gesetz, das vor 8o Jahren erlassen wurde: dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahr 1913, RuStAG genannt. Damals wurde zum Prinzip erhoben, was bis heute gilt: Deutscher ist nicht der, der in Deutschland geboren wird – nein, Deutscher ist nur der, der von Deutschen abstammt. So vermischen sich Biologie und Recht: so wurde der Staat zum Gefäß für eine völkische Substanz; so wurde der Irrglaube befördert, man könne die eigenen Staatsangehörigen an Haut und Haar erkennen.

Nur in Deutschland nirgendwo sonst floß das Blut so dick ins Recht. Nirgendwo sonst wurde das Staatsbürgerschaftsrecht so tief eingegraben im Mythos: Das deutsche sollte tiefer begründet sein als jedes andere Staatsvolk. Deshalb wurde die Staatsgemeinschaft nicht als politische Gemeinschaft definiert, sondern als Blutsgemeinschaft. Der völkische Ungeist, der zwei Jahrzehnte später in die Katastrophe führte - er ist also im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahr 1913 schon angelegt. Dieser Ungeist, im Dritten Reich zum Staatskult erhoben, hat im Staatsangehörigkeitsrecht bis heute überlebt. Gesetze sind eben zäher als Reiche und Staaten: Unrechtsstaat vergeht, Gesetz besteht.

An den Prinzipien des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes aus dem Jahr I9I3 hatte man während der deutschen Teilung nie etwas ändern wollen, weil dieses Recht, wie Wolf gang Schäuble (CDU) in seiner Zeit als Innenminister immer wieder betonte, »die Klammer für die beiden deutschen Staaten in der Staatsangehörigkeit« war. Mit eben diesem Argument wurde die Forderung nach der Doppelstaatsbürgerschaft Jahr für Jahr abgelehnt. Nun ist die Einheit da - aber nach wie vor läßt man vom Recht von vorgestern nicht ab.

Aus der Pauken- und Trompeten-Rhetorik der parlamentarischen Debatte von I9I3, nachzulesen in den Protokollen des Reichstags, kann sich der Rechtsradikale von heute üppig bedienen. Er findet alles, was sein Herz begehrt: Deutschland den Deutschen; Ausländer raus; Artreinheit; Einbürgerung als Gnade - sie verlangt »Umvolkung« und Bekehrung. Das Begehren demokratischer Parteien heute kann dies nicht sein. Ihre Aufgabe ist es, an einem gemeinsamen Europa ohne nationalstaatlichen Dünkel zu bauen. Im gemeinsamen Europa wird es eine gemeinsame europäische Staatsbürgerschaft geben, hinter der die deutsche, die französische oder türkische zurücktritt. Und diese Staatsbürgerschaften wird man in Europa so wenig vermissen, wie man heute in Deutschland die bayerische, preußische oder württembergische vermißt. Hat deswegen jemand. aufgehört, sich als Bayer zu fühlen?

Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit das kann man daraus lernen, sind verschiedene Begriffe. Genauso kann man Bürger der Bundesrepublik und zugleich Italiener oder Türke sein. Staatsangehörigkeit, ist ein Rechtsbegriff,
Volkszugehörigkeit in ethnischer Terminus – er umfaßt die Sitten und Traditionen, die "ein Wirgefühl erzeugen. Diese Unterscheidung hat längst auch in konservative Parteiprogramme Eingang gefunden. Um so merkwürdiger sind die Schwierigkeiten, welche die Bonner Politik damit hat, sich vom unseligen »Recht des Blutes« zu lösen und es durch ein »Recht des Bodens« zu ersetzen - oder wenigstens den Geburtsort als Grund für die Zuerkennung deutscher Staatsbürgerschaft gleichberechtigt neben die Abstammung zu stellen. Vor über achtzig Jahren, 1913 nämlich, haben die Sozialdemokraten im deutschen Reichstag schon vergeblich das gefordert, was heute immer noch auf rechtliche Anerkennung wartet: Wer in Deutschland geboren wird, ist Deutscher; und wer zugewandert und wirtschaftlich eingegliedert ist, hat ein Recht auf staatliche Einbürgerung.
Welcher Zuwanderer hat das Recht auf Einbürgerung und wann hat er es? Von der Erleichterung der Einbürgerungsvoraussetzungen wird seit Jahren geredet, es wurden auch Gesetze verabschiedet, die dies angeblich im Sinn hatten. Geändert hat sich nichts, die Einbürgerungsverfahren blieben langwierig und kompliziert, die Einbürgerungsquoten niedrig. Das größte Hindernis bildet nicht einmal das Gesetz aus dem Jahr 1913 mit seinen detaillierten Einbürgerungsvoraussetzungen (gesichertes Einkommen, Gewährleistung künftiger Einordnung in deutsche Lebensverhältnisse etc. etc.), sondern vielmehr eine simple, aber radikale Verwaltungsrichtlinie im Verein mit dem Ausländergesetz: Dort nämlich wird die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit verlangt, Doppelstaatsangehörigkeit
also grundsätzlich nicht zugelassen. An diesem Erfordernis scheitert bis heute die Anerkennung eines unbestreitbaren Faktums: der Zugehörigkeit von längst eingewanderten und ansässigen Ausländern zur deutschen Gesellschaft.

Begründet wird dieser Anachronismus mit der Gefahr gespaltener Loyalitäten: Man könne nicht zwei Herren dienen. Indes: Der Staatsbürger ist nicht Diener, sondern Mitglied des Staates. Niemand nimmt daran Anstoß, wenn ein Bürger Mitglied mehrerer Vereine ist, im Gegenteil: dann gilt er als besonders engagiert. Zeigt das nicht auch eine Chance für Europa auf? Dient es nicht der europäischen Integration, zwei Mitgliedschaften zu haben? Mehrstaatigkeit in einem sich vereinigenden Europa ist deshalb kein Fluch, sondern ein Segen. Wer Staatsangehörigkeit heute noch als höchst exklusives Band verstehen will, der übersieht zudem, daß heute schon in Deutschland Zehntausende von Kindern aus binationalen Ehen mit zwei Staatsangehörigkeiten aufwachsen. Die einzig denkbare
Pflichtenkollision ist die Wehrpflicht – doch das Risiko, doppelt herangezogen zu werden, geht der Doppelstaatler selbst ein (und es kann in der Praxis durch Staatenabkommen ausgeschlosssen werden).

Die Unionspolitiker, denen Doppelstaatsangehörigkeit ein rotes Tuch ist und die sich zuletzt im April I994 einem Gesetz über die doppelte Staatsbürgerschaft verweigerten., obwohl es in der Koalition und mit der SPD so abgesprochen war, sie mögen sich an Konrad Adenauer erinneren: Er hat 1954 vorgeschlagen, die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland durch die Einrichtung einer doppelten Staatsbürgerschaft zu fördern. Versöhnung braucht Europa heute nicht minder.